Kill The Jockey

Warum steigt man auf ein Pferd? Meistens weil man vor etwas fliehen will, meint Remo Manfredini, der Protagonist von „Kill the Jockey“. Durchaus folgerichtig hat Remo den Beruf des Jockeys ergriffen, denn er ist ein Unglück auf zwei Beinen, permanent auf der Suche nach einem Ort, wo es passieren kann. Gründe zur Flucht hat er wahrlich genug, doch Orte, an die er fliehen kann, scheint es bald nur noch in seiner Fantasie zu geben. Oder sind sie vielleicht doch ganz real? 

Luis Ortegas Thriller-Groteske bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit, Rausch und Realität und erfreut mit einer bestechend großen Fülle an schrägen Einfällen.

 

Über den Film

Originaltitel

El Jockey

Deutscher Titel

Kill The Jockey

Produktionsland

ARG,MEX,ESP,USA,DNK

Filmdauer

96 min

Produktionsjahr

2024

Produzent

Lazaro, Paz / Kuschevatzky, Axel / Pro, Nando Vila

Regisseur

Ortega, Luis

Verleih

MFA

Starttermin

18.09.2025

 

Remo war einst eine große Hoffnung des Pferderennsports, aber mittlerweile kann er sich, egal ob nüchtern oder mit Tabletten und Alkohol vollgepumpt, buchstäblich kaum noch im Sattel halten. Als er bei einem wichtigen Rennen tatsächlich am Start vom Pferd fällt, hat nicht nur seine von ihm schwangere Jockey-Kollegin Abril die Nase voll, sondern auch der Geduldsfaden des Gangsterbosses Sirena, der ihn finanziert, droht die sich häufenden Zerreißproben nicht zu überstehen. Selbst ein hastig zur Ausnüchterungszelle umgebauter Stall hilft nicht, denn nach dem Dopingtest genehmigt Remo sich gleich noch ein paar Anmacher und geht beim nächsten Rennen selbstbewusst in Führung, um es dann mit einem Ritt durch einen Zaun und einen spektakulären Sturz relativ stillos zu beenden. Er wird ins Krankenhaus eingeliefert, ohne sich später daran erinnern zu können. Aber dass mittlerweile Himmel, Hölle und viele Menschen hinter ihm her sind, das scheint Remo nur allzu gut zu wissen. Er macht sich, im Pelzmantel seiner Bettnachbarin und dank eines voluminösen, an einen Turban erinnernden Kopfverbandes, heimlich aus dem Staub und begibt sich als Dolores auf eine surreale Odyssee durch die Nacht von Buenos Aires.

 

Obwohl „Kill the Jockey“ auf einem bekannten, meist einigermaßen vorhersehbaren Thrillerplot operiert à la: Protagonist reitet sich immer weiter rein, bis ihm nur noch ein verzweifelter Ausweg bleibt, hat Luis Ortega („Der schwarze Engel“) erneut einen ungewöhnlichen, immer wieder überraschenden und gelegentlich sogar verstörenden Film gedreht. 

 

Zuallererst ist hier der Hauptdarsteller zu nennen. Nahuel Pérez Biscayart, der unter anderem in „Persischstunden“ (Regie: Vadim Perelman) brillierte, stürzt sich – wie in allen seinen Filmen – mit Verve und Intensität in seine Rolle. Er spielt den Schmerzensmann Remo, der nichts anderes im Sinn zu haben scheint, als sich und anderen größtmöglichen Schaden zuzufügen, mit den brennenden Augen eines Stummfilmhelden, als eine Art Buster Keaton in Jockey-Stiefeln. Auch später, wenn er Käppi und schillerndes Trikot gegen Pelz und Turban getauscht hat, erklärt er seine Figur nicht, sondern gibt dem Publikum lieber faszinierende Rätsel auf.

 

Das passt dann vortrefflich zu Luis Ortegas einfallsreicher Regie. Er zieht für sein surreales Identitätsdrama jede Menge doppelte Böden in den Film ein, ohne sich darum zu kümmern, welcher davon der Boden der Realität sein könnte. Stattdessen vertraut er einem nicht enden wollenden Strom von kreativen und schrägen Einfällen. So spielt er beispielsweise mit der Möglichkeit, dass das Buenos Aires, durch das Remo in bizarrer Frauenverkleidung irrt, möglicherweise auch das Jenseits sein könnte: Remos (bzw. Dolores‘) Spiegelbild ist nicht zu sehen und, als er sich auf eine Waage stellt, scheint er schwerelos wie ein Geist zu sein. Auf eine Auflösung verzichtet Ortega mit chevaleresker Lässigkeit. Zur Entschädigung haben Ortega und sein genialer Kameramann Timo Salminen, der viel mit Aki Kaurismäki gearbeitet hat, dem Film einen satten, sehr stylishen Retro-Look verpasst und auf diese Weise eine Welt kreiert, in der alles möglich zu sein scheint, sobald der Jockey versucht, den Zaun der Rennbahn zu durchbrechen. In dieser Welt sind Jockeys die Rockstars, Showdowns lösen sich in Choreografien auf, und vielleicht gelingt es der von Sirenas Ganoven verfolgten Dolores, was Remo nie geschafft hat: zu sich selbst zu finden.

 

Auch wenn nicht alles immer ganz schlüssig ist: Kann man einem Film widerstehen, der in seinen stärksten Momenten so wirkt, als hätte Wes Anderson einen teuflischen Drogencocktail eingepfiffen und eine neue Folge von „Rivalen der Rennbahn“ gedreht? – Sicherlich nicht. Also alles auf Sieg für Remo Manfredini, denn schließlich bekommen die Außenseiter die besten Quoten!

 

Gaby Sikorski

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