Dass aus Nachbarn Feinde werden, passiert leider gar nicht mal so selten. Auch in der britischen Krimikomödie „Kleine schmutzige Briefe“ erwächst aus einer Freundschaft zwischen zwei grundverschiedenen Frauen, die Tür an Tür wohnen, eine erbitterte Fehde. Grundlage des Films ist ein realer Skandal aus der englischen Provinz, der in den 1920er-Jahren landesweit für Aufsehen sorgte. Regisseurin Thea Sharrock („Ein ganzes halbes Jahr“) macht daraus kurzweiliges Schauspielkino mit gesellschaftskritischen Spitzen.
Regie: Thea Sharrock
Drehbuch: Jonny Sweet
Darsteller: Olivia Colman, Jessie Buckley, Anjana Vasan, Timothy Spall, Gemma Jones, Hugh Skinner, Alisha Weir, Eileen Atkins, Lolly Adefope, Joanna Scanlan, Malachi Kirby, Paul Chahidi
Länge: 100 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Verleih/Vertrieb: Studiocanal
Kinostart: 28.03.2024
Website: https://www.studiocanal.de/title/kleine-schmutzige-briefe-2024/
FILMKRITIK:
Im sonst so beschaulichen Littlehampton, einer kleinen Küstenstadt im Süden Englands, herrscht helle Aufregung, als diverse Bürger anonyme Schreiben mit höchst obszönen, sexuell aufgeladenen Beschimpfungen erhalten. Besonders hart trifft es die fromme Edith Swan (Olivia Colman), die trotz fortgeschrittenen Alters noch mit ihren Eltern in einem stickig wirkenden Haus zusammenwohnt und in der Gemeinde als Verkörperung von Tugendhaftigkeit gilt. Ihr Verdacht fällt sofort auf ihre freigeistige Nachbarin Rose Gooding (Jessie Buckley), eine Irin, die mit ihrer Tochter Nancy (Alisha Weir) und ihrem neuen Partner Bill (Malachi Kirby) nach Littlehampton gezogen ist. Anfangs verstanden sich die beiden Frauen prächtig. Doch dann kam es zum Bruch. Und nun hält Edith die bösen Briefe für eine gemeine Racheaktion.
Der ermittelnde Constable Papperwick (Hugh Skinner) folgt rasch Swans Theorie. Rose muss schon deshalb schuldig sein, weil sie mit ihrem eigenwilligen Lebensstil und ihrem Temperament nicht in die konservativ geprägte Stadtgesellschaft passt. Zweifel hegt allerdings Gladys Moss (Anjana Vasan), das erste und einzige weibliche Mitglied der örtlichen Polizei. Dem Braten nicht trauend, stellt sie weitere Nachforschungen an und versucht, die im Gefängnis landende Gooding zu entlasten.
„Kleine schmutzige Briefe“ entwirft einen provinziellen Mikrokosmos, in dem durch die unerhörten Schreiben ein erschreckendes Ausmaß an Misogynie, Bigotterie und Rassismus schonungslos zu Tage tritt. Frauen haben in diesem 1920er-Jahre-Setting bei Entscheidungen den Mund zu halten, müssen sich fügen, sollen brav und artig ihre Hausarbeiten verrichten und stets höflich bleiben. Männer dagegen dürfen fluchen, was das Zeug hält, schauen Rose jedoch mit Verachtung an, wenn sie mal wieder einen derben Spruch loslässt. Dass sie keine Einheimischen ist und einen schwarzen Freund hat, macht sie erst recht zu einer Außenseiterin. Im Gegensatz zu Gooding, die frank und frei sagt, was sie denkt, schluckt Edith jede noch so böse Kränkung ihres herrischen Vaters herunter, den Jonny Sweets Drehbuch als schlimmste Ausprägung des herrschenden Patriarchats zeichnet. Timothy Spall füllt diesen Teufel im Spießergewand mit großem Engagement aus.
Schwer hat es auch Gladys, die von ihren Kollegen nicht richtig ernst genommen und wie eine Aushilfe behandelt wird. Prägnant fängt die Regisseurin dies über die Positionierung in der Szene ein, in der Papperwick Edith befragt. Während er sitzt, steht Moss wie ein Beistellstück am Rande. Gleichwohl rebelliert sie auf subtile Weise gegen die Konventionen, setzt sich über die Bestimmungen ihres Chefs (Paul Chahidi) hinweg, indem sie den Fall weiter untersucht.
Obschon die Geschichte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg spielt, fühlt man sich des Öfteren an unsere leider nicht nur schöne Onlinewelt erinnert. Hassrede und Slutshaming – traurige Phänomene unserer digitalen Gegenwart – sind keine neuen Erfindungen, sondern auch im durch und durch analogen frühen 20. Jahrhundert schon sehr präsent. Die mediale Skandalisierung des Falls wird in „Kleine schmutzige Briefe“ zwar angeschnitten. Allzu viel Augenmerk auf die Wirkung der Ereignisse außerhalb Littlehamptons legt der Film allerdings nicht.
Der Krimiplot, die Suche nach dem wahren Schreiberling, strotzt nicht gerade vor Überraschungen, hat aber immerhin zwei, drei böse Pointen zu bieten. Hier und da, zum Beispiel in der Zeichnung einiger Nebenfiguren, wird es etwas plakativ. Ausreichend Unterhaltungswert besitzt das mal witzige, mal bissige, mal tragische Ringen der drei so unterschiedlichen Frauen um Selbstbestimmung und Anerkennung dennoch. Warum? Ganz klar: Weil die Darstellerinnen einen guten Job machen. Anjana Vasan überzeugt als zurückhaltende, gleichwohl hartnäckige Spurensucherin, während sich Olivia Colman und Jessie Buckley ein Funken sprühendes Duell liefern. Besonders Erstere weiß zu glänzen, ist ihr zwischen frommer Biederkeit, Verletzlichkeit und Bosheit oszillierender Part doch die anspruchvollste der drei Hauptrollen.
Christopher Diekhaus