La Chimera

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Der neue Film der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher erzählt von einem Ex-Archäologen, der einer Bande von toskanischen Grabräubern hilft. Ihr gemeinsames Ziel: das Auffinden etruskischer Grabkammern, in denen sich antike Schätze und archäologische Kunstgegenstände befinden. Auch wenn es danach klingt: „La Chimera“ ist kein an Indiana Jones erinnerndes Schatzsucher-Abenteuer. Rohrwacher gelingt vielmehr ein eigenwilliger, anspruchsvoller Hybrid aus Drama, Komödie, Romantik und Mystery. Ein poetisches Werk, in dem sie sich der Vergänglichkeit und den Leiden des Lebens ebenso annimmt wie der Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart.

Italien, Frankreich, Schweiz 2023
Regie: Alice Rohrwacher
Buch: Alice Rohrwacher
Darsteller: Josh O'Connor, Carol Duarte, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher

Länge: 130 Minuten
Verleih: Piffl Medien GmbH
Kinostart: 11.04.24

FILMKRITIK:

Zurück in seiner kleinen Stadt am Tyrrhenischen Meer, trifft der frisch aus dem Gefängnis entlassene Arthur (Josh O'Connor) auf seine Tombaroli-Bande. Eine Gang toskanischer Grabräuber. Arthur unterstützt seine Mitstreiter bei deren Raubzügen und dem Versuch, verschollen geglaubte Kammern aufzuspüren. Kurz darauf lernt er die lebensfrohe Aushilfe Italia (Carol Duarte) kennen, die in einer von Gräfin Flora (Isabella Rossellini), der Mutter seiner verstorbenen großen Liebe Beniamina, bewohnten Schlossanlage als Aushilfe arbeitet. Gelingt es Arthur mit ihr, seine Trauer zu überwinden?

Mit „La Chimera“ beendet Alice Rohrwacher ihre unbetitelte Filmtrilogie über das einfache Leben im ländlichen Italien. Ihre Trilogie begann sie 2014 mit „Land der Wunder“, es folgte „Glücklich wie Lazzaro“ im Jahr 2018. Wie gewohnt macht es die 41-jährige Autorenfilmerin dem Zuschauer mit ihrem anspielungsreichen Vorgehen und den rätselhaften Verweisen nicht leicht – doch es lohnt mehr denn je, sich in dieser filmischen Welt auf Entdeckungsreise zu begeben.

Es ist eine Reise der Gegensätze und sich gegenüberstehender Widersprüchlichkeiten. So trifft arm auf reich, wenn der mittellose, in einer improvisierten Wellblechhütte lebende Arthur mit seinen ebenfalls verarmten Grabräuber-Kumpanen auf die reichen Kunsthändler trifft. Jene Händler, die Arthur und seiner Bande die antiken Kunstfunde zu Billigpreisen abkaufen. Nur um sich selber durch den Weiterverkauf daran zu bereichern. Ganz allgemein stellt Rohrwacher hier aber auch die Armut der Landbevölkerung und Bauern dem Wohlstand und Luxus der Städter gegenüber.

Darüber hinaus trifft in „La Chimera“ das Vergängliche auf das Gegenwärtige. Etwa in Gestalt der einst wohlhabenden (Ex-)Aristokratin Flora, toll gespielt von Isabella Rossellini. Flora ist nur noch ein Schatten längst vergangener, luxuriöser Zeiten und haust mittlerweile in einer maroden, verfallenden Villa. Das Thema „Endlichkeit“ und der Zusammenprall von Vergangenheit und Jetztzeit spiegeln sich außerdem im Leitthema des Films. Die Gräber und die wertvollen Artefakte darin künden von untergegangenen Völkern und Kulturen. Es sind verschüttete, längst in Vergessenheit geratene Grabkammern, die unschätzbare Werte beinhalten. Und nach denen Grabräuber in den 80er-Jahren (in jenem Jahrzehnt spielt der Film) ebenso vehement suchten wie es noch heute der Fall ist.

Ein Hauptgewinn ist Josh O’Connor („The Crown“), der interessanterweise eine aus England stammende Hauptfigur in seiner Wahlheimat Italien spielt, die über eine besondere Begabung verfügt: Arthur kann die Lage der etruskischen Gräber erspüren. O’Connors Spiel ist virtuos und emotional gewichtig und er macht alleine durch seinen gedankenverlorenen Blick und seinen Gang klar: Er ist ein trauernder, von beständigen Tagträumen und Visionen geplagter Mann. Ein Ruheloser und Getriebener, der den Verlust der großen Liebe nicht verkraften kann. Deshalb fühlt er sich auch so sehr von der „Unterwelt“, den Gräbern und damit der Leere unter der Erde, angezogen. Arthur changiert gewissermaßen zwischen dem Jenseits und dem Leben.

Neben den Traumsequenzen verleihen die vielen historischen und philosophischen Anspielungen sowie die Bezüge auf die griechische Mythologie „La Chimera“ etwas Poetisches und Magisches. All diese Hinweise machen es erforderlich, dass sich der Betrachter 130 Minuten konzentriert auf das Geschehen einlässt. Dennoch kann es nötig sein, sich vor oder nach dem Film noch mehr Hintergrundkenntnisse anzueignen bzw. anzulesen. Denn über die genauen historischen Kontexte oder Wirken und Leben der Etrusker erfährt man nicht wirklich viel. Bei einigen Figuren hätte man sich auch noch mehr einordnendes Wissen gewünscht. Das betrifft die in den Tagträumen dauerpräsente aber nie wirklich anwesende Beniamina und eine zwielichtige, geheimnisvolle Antiquitätenhändlerin.

 

Björn Schneider