Lampenfieber

Zum Vergrößern klicken

Der Berliner Friedrichstadt-Palast ist die größte Theaterbühne der Welt. Er spielt eigentlich die Hauptrolle in dieser prachtvoll gelungenen Dokumentation, denn alles dreht sich um das traditionsreiche Haus. Das „Junge Ensemble“ probt hier monatelang für die jährliche Premiere. Von der ersten Stunde des Castings bis zum Schlussapplaus auf der Premiere begleitet Alice Agneskirchner („Auf der Jagd - Wem gehört die Natur?“) ihre jungen Protagonisten und erzählt mit ihnen gemeinsam die spannende Geschichte von der Entstehung und Erschaffung einer großen Bühnenshow. Das Theater als Stätte der Wunder - dennoch wird die Wirklichkeit nicht etwa ausgesperrt. Alice Agneskirchner gelingt mit filmischen Mitteln der seltene Brückenschlag zwischen Realität, Traum und Fantasie: ein Kinovergnügen für Jung und Alt.

Webseite: Lampenfieber-derFilm.de

Dokumentarfilm
Deutschland 2019
Regie und Buch: Alice Agneskirchner
92 Minuten
Verleih: NFP/Filmwelt
Kinostart: 14. März 2019

FILMKRITIK:

Im Friedrichstadt-Palast und drum herum ist mal wieder richtig was los. Überall schwirren Kinder durch die Gegend. Ihr gemeinsames Ziel ist einer der begehrten Plätze im Jungen Ensemble, einer – eigentlich aber DER – Schule für Tanz, Gesang und Schauspiel für Kids. Die neue Show „Spiel mit der Zeit“ soll im November herauskommen, die jährliche Weihnachtsproduktion für die ganze Familie hat eine große Tradition. Der Friedrichstadt-Palast mit seinem Glamour und seiner großen Vergangenheit verfügt über eine ganz besondere Strahlkraft, die nicht nur das Publikum, sondern auch alle diejenigen anlockt, die davon träumen, selbst einmal auf der Bühne zu stehen. Schon acht Monate vor der Premiere beginnt die Arbeit an der Show. 280 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren sind am Friedrichstadt-Palast in der Ausbildung. Sie lernen tanzen, singen, spielen und sprechen. Jedes Jahr können höchstens 30 neue Ensemblemitglieder aufgenommen werden, und einige von ihnen gehören vielleicht ebenfalls zu den Glücklichen, die schließlich auf der Bühne stehen dürfen.
 
Alice Agneskirchner begleitet die Revueproduktion vom ersten Casting bis zur Premiere. Sie präsentiert die Macherinnen und Macher, allen voran die Direktorin des Jungen Ensembles, Frau Tarelkin, die mit Sensibilität, pädagogischem Geschick und offenbar unerschöpflicher Energie ihr Team von Tanz- und Musikpädagogen sowie das gesamte Ensemble anleitet. Dabei wird deutlich, dass alle Mitwirkenden – auch die jüngsten – neben Talent auch noch vieles andere mitbringen müssen, wenn sie auf der Bühne stehen wollen. Neben Talent, Spaß und Ehrgeiz sind für den künstlerischen Erfolg auch Fleiß und Disziplin extrem wichtig. Über mangelndes Engagement kann sich Frau Tarelkin normalerweise nicht beklagen, hier ist jeder pünktlich, und zwar freiwillig, wie sie betont. Das ist absolut glaubwürdig: Die Kids zeigen viel Einsatz, manchmal übertreiben sie es sogar.
 
Fünf junge Ensemblemitglieder werden intensiver vorgestellt, einschließlich ihrer Familien, Interessen und ihrer Beweggründe, warum sie zur Bühne wollen. Dabei zeigt Alice Agneskirchner in der Zusammenarbeit mit Kindern liebevolles Verständnis und großen Respekt. Das danken ihr die jungen Protagonisten mit Vertrauen und Offenheit. Da ist ein kleines Mädchen, die zehnjährige Luna, deren Oma früher in der berühmten Girlsreihe des Friedrichstadt-Palastes tanzte und die dem Haus bis heute als Mitarbeiterin verbunden ist. Gemeinsam mit der begeisterten Luna erkundet sie während der Abendvorstellung die Welt hinter der Bühne. Die beiden atmen fasziniert die Theaterluft, ohne die sie vermutlich nicht existieren können. Aber nicht alles ist immer lustig und schön, die 16-jährige Alex hat vor Kurzem ihre Mutter verloren, sie möchte Sängerin werden und hofft auf eine Rolle in der neuen Produktion. Auch andere Kinder haben mit Problemen zu kämpfen, mit Krisen und Rückschlägen. Und es gibt viele Herausforderungen. Der 13-jährige Oskar lebt für die Bühne und für sein Hobby, die MakeUp-Kunst, er hat als „Ossi Glossy“ einen eigenen YouTube-Kanal und muss sich im Alltag oft gegen Anfeindungen wehren, weil er sich schminkt. Oskar ist ein echter Profi, schon ziemlich taff, aber er bleibt hilfsbereit und gibt anderen Tipps. Für ihn wie für die anderen gilt: Auf dem Weg zur Premiere müssen eine Menge Schwierigkeiten bewältigt werden. Das wahre Leben ist nicht immer nett zu den jungen Künstlern, und das Training ist hart. Manche können nicht mithalten. Alice Agneskirchner spart weder kleine noch große Katastrophen, weder Tod noch Krankheit aus, sie zeigt das Leben der Kids in allen Facetten, wobei der Ton durchgängig leicht bleibt. Die ganze Raffinesse ihres eigenen künstlerischen Konzepts enthüllt sich erst im Verlauf des Films. Was zu Beginn aussieht wie eine ganz normale Doku über Kids, die zum Theater gehen wollen, entwickelt sich zu einer dramaturgisch geschickt komponierten Geschichte, die in einer ausgefuchsten Schnitttechnik präsentiert wird. Während die Proben fortschreiten, formt sich aus den Einzelteilen der filmischen Erzählung ein Gesamtbild: Langsam wird aus dem Inhalt des Revuestücks und den Biographien der Mitspieler eine Handlung, die in der umjubelten Premiere ihren Abschluss findet und wo am Ende alles zu allem passt. Die Schicksale der Kinder scheinen sich wie von Zauberhand in die Handlung einzufügen, die im großen Premierenfinale ihren Abschluss findet. Das ist nicht nur klug ausgedacht, sondern auch extrem stimmungsvoll – ein wunderbarer Ausklang für einen wunderbaren Film.
 
Gaby Sikorski