Ein Jugendgefängnis, zwei Insassen, die ihre Gefühle füreinander entdecken. Was auf den ersten Blick wirkt wie eine typische Coming-of-Age-Geschichte, erweist sich als Versuch, von etwas Größerem zu erzählen: Von der Suche nach Freiheit, einer Gesellschaft, die von Vorurteilen geprägt ist und einem Justizsystem, das gerade gegenüber Migranten alles andere als blind ist.
Belgien/ Frankreich 2023
Regie & Buch: Zeno Graton
Darsteller: Khalil Gharbia, Julien de Saint Jean, Amine Hamidou, N’landu Lubansu, Samuel Di Napoli, Matéo Bastien
Länge: 83 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 29. Februar 2024
FILMKRITIK:
Eine Jugendstrafanstalt ist Heimat von Joe (Khalil Gharbia), einem 17jährigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Nicht zum ersten Mal sitzt er wegen kleinerer Straftaten, nicht zum ersten Mal steht er vor der Entlassung, vor der sogenannten Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Doch diese Gesellschaft will ihn nicht, schon gar nicht seine Familie, von der Joe in Rückblenden erzählt, von seiner Mutter, die ihn verstoßen hat.
Regelmäßig haut Joe ab, weniger mit der Hoffnung, wirklich zu entkommen, sondern wegen des Gefühls, für ein paar Stunden frei zu sein, sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Nach einem erneuten Ausbruch, bei dem er es bis ans Meer schafft, den Sand spüren, das Salz in der Luft riechen kann, wird ihm in der Anstalt sein Radio weggenommen. Nicht nur ein wichtiger Kontakt zur Welt da draußen, sondern für den am Rap interessierten Joe auch ein Mittel der Inspiration.
In seinem Nachbarzimmer zieht bald darauf William (Julien de Saint Jean) ein, ebenso verschlossen wie Joe, aber am Zeichnen interessiert. Schnell formt sich ein besonderes Band zwischen den beiden Jugendlichen, eine zarte Liebe hinter den kargen Mauern der Anstalt. Während William nicht so bald auf eine Entlassung hoffen darf, könnte Joe bald wieder in die Freiheit gehen. Aber nun hat er William und die Frage stellt sich, wo er wirklich frei sein kann.
Bei einer schwulen Gefängnisgeschichte liegt der Gedanke an Jean Genet auf der Hand, dessen Romane augenscheinlich eine Inspiration für Zeno Gratons Debütfilm war. Mehr noch dürfte aber der französische Philosoph Michel Foucault Pate gestanden haben, vor allem dessen berühmtes Werk „Überwachen und Strafen“, in dem die Strukturen und Unterdrückungsmechanismen von Strafanstalten beschrieben werden. Dass Graton selbst zur Hälfte tunesischer Abstammung ist, dürfte sein Bewusstsein für Diskriminierung in der belgischen Gesellschaft gestärkt haben, ob durch eigene Erfahrungen oder durch Berichte von Freunden und Verwandten.
All diese Erfahrungen fließen nun in einen Film ein, der einerseits emotionales Beziehungsdrama ist, andererseits auf fast dokumentarische Weise den Alltag in einer Jugendstrafanstalt schildert. Auf der einen Seite überzeugen dabei zwei Jungstars des französischsprachigen Kinos, Khalil Gharbia und Julien de Saint Jean. Auf der anderen ein Ensemble an jungen Darstellern, die den Szenen im Gefängnis, beim Hofgang, bei der Arbeit mit den Sozialarbeitern viel Authentizität verleihen.
Vor allem aber gelingt es Graton die Emotionen von Joe einzufangen, der sein Leben zwischen Freiheit und Gefängnis verbracht hat und inzwischen kaum noch weiß, wo er wirklich zu Hause ist. Die Tragik des Jugendstrafvollzugs, der oft eher schwere Kriminalität produziert, als jugendliche Straftäter zu resozialisieren, wird hier spürbar deutlich.
Michael Meyns