Leto

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Der Name Viktor Tsoi dürfte den meisten deutschen ebenso wenig bekannt sein, wie die Musikszene Leningrads in den 80er Jahren. Was diese Zeit, diese Personen für die damals jungen Sowjetbürger bedeutete, kann man also nur erahnen, zumal sie Kiril Serebrennikov in seinem Film „Leto“ nicht in Worten erklärt. Doch die Bilder und Emotionen, mit denen er diese Zeit evoziert, könnten lebendiger und leidenschaftlicher nicht sein und machen dieses melancholische, mitreißende Künstlerporträt so bemerkenswert.

Webseite: www.facebook.com/Leto.DerFilm

Russland 2018
Regie: Kiril Serebrennikov
Buch: Mikhail Idov, Lili Idova, Kiril Serebrennikov
Darsteller: Teo Yoo, Irina Starshenbaum, Roma Zver, Anton Adasinsky, Liya Akhedzhakova, Yuliya Aug, Filip Avdeev
Länge: 126 Minuten
Verleih: Weltkino
Kinostart: 8. November 2018

FILMKRITIK:

„Leto“ bedeutet Sommer und an einem lauen Sommerabend am Strand der baltische See, begegnen sich auch die drei Hauptfigur von Kiril Serebrennikovs Film, die bald ein musikalisches und emotionales Dreieck bilden werden, dass die Leningrader Musikszene der 80er Jahre prägte. Die Frau zwischen zwei Männern ist Natacha (Irina Starshenbaum), die mit dem älteren Mike (Roman Bilyk) zusammen ist, einem schon etablierten und auch schon etwas desillusioniertem Musiker. In dem einen Club Leningrads, in dem der Staat Rockmusik erlaubt - wenngleich unter so kontrollierten Umständen, das selbst ein rhythmisches mitwippen von den Tugendwächtern mit bösen Blicken bedacht wird - ist Mike der Mittelpunkt: Er entscheidet welche Bands eine Chance erhalten, wer Teil des Zirkels von zumindest im Ansatz subversiven, anarchischen Menschen wird, die mehr schlecht als recht versuchen, sich mit dem System zu arrangieren.
 
Der dritte im Bunde ist Viktor Tsoi (Teo Yoo), der an diesem Sommertag noch ein Unbekannter ist, ein blasser Typ, der am Strand die Nähe der etablierten Musiker sucht. Mit seinem asiatischen Aussehen - sein Vater stammte aus Korea - sticht Viktor ohnehin schon heraus, doch was ihn bald zum Star der Szene machen wird, ist seine Musik, seine Texte, die die Stimmung einer Generation einfangen. Niemand kann sein Talent übersehen, auch Mike nicht, der so sehr an Freiheit und Selbstbestimmung glaubt, dass er es auch akzeptiert, als Natacha eine Affäre mit Viktor beginnt.
 
Aus dieser Ausgangssituation könnten viele Geschichten entstehen, doch Serebrennikov will keine von ihnen erzählen. Zwei Stunden taucht er in die Welt Leningrads der 80er Jahre ein, evoziert Stimmungen und Emotionen und deutet gerade dadurch an, dass er die Bedeutung dieser Ära nicht in Worte fasst, was sie auch heute noch bedeutet. Gerade für einen offenen Regime-Kritiker wie Serebrennikov, der gegen Ende der Dreharbeiten zu „Leto“ wegen angeblicher Unterschlagung von Geldern unter Hausarrest gestellt wurde, ist dieser Blick in die Vergangenheit ein Spiegel der Gegenwart.
 
Die letzten Jahre der Sowjetära beschreibt er, eine Phase, in der das System nur noch vor sich hinsiechte, erstarrt war und die Kunst eines der wenigen Ventile war. Man könnte hier mit dem bei der Berlinale gezeigten „Dovlatov“ von Alexey German ein schönes Double-Feature programmieren, der eine Film über die Literaturszene der 70er, der andere über die Musikszene der 80er, beide in Leningrad angesiedelt, beide voller Melancholie, beide in langen, elaborierten Plansequenzen gefilmt, die nicht einzelne Figuren herausstellen, sondern dem Zuschauer ermöglichen, aber auch ihn dazu zwingen, ihre Welt als Ganzes zu entdecken.
 
Auch „Leto“ ist also weniger narrativer Film, als Zustandsbeschreibung, weniger Geschichte, als Emotion, der sich manchmal vielleicht ein wenig in seiner Welt verliert, aber trotz seiner zwei Stunden Länge ein mitreißendes, emotionales Porträt einer Szene ist, die zwar auf diese spezielle Weise nur im Leningrad der 80er Jahre existierte, in ihrer Universalität aber weit über sie hinausweißt.
 
Michael Meyns