Living – Einmal wirklich leben

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Lange schon träumte Kazuo Ishiguro, in Japan geboren, in England aufgewachsen, davon, ein englischsprachiges Remake von Akira Kurosawas Film „Ikiru“ (1952) zu schreiben. Er dachte dabei immer an Bill Nighy. Bei einer zufälligen Begegnung stellte er ihm die Idee vor. Nighy kannte Kurosawas Film nicht, sah ihn sich aber an und erklärte Ishiguro, dass er die Rolle gerne spielen würde. Es ist die Rolle eines Beamten, der im Trott des Alltags verlernt hat, was es heißt, wirklich zu leben. Bis ihm aufgrund einer Krankheit kaum noch Zeit bleibt.

Webseite: https://www.sonypictures.de/filme/living-einmal-wirklich-leben

Living
Großbritannien 2022
Regie: Oliver Hermanus
Buch: Kazuo Ishiguro
Darsteller: Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Adrian Rawlins, Hubert Burton

Länge: 102 Minuten
Verleih: Sony Pictures Classics
Kinostart: 11. Mai 2023

FILMKRITIK:

London im Jahr 1953: Mr. Williams (Bill Nighy) ist ein Beamter, der streng nach Vorschrift handelt, jedweden Idealismus verloren hat und Vorgänge auch einfach zu den Akten legt, wenn sie sich nicht klären lassen. So wie die Petition einiger Damen, die die Stadt ersuchen, in ihrem Viertel einen Spielplatz zu bauen. Doch dann erhält Mr. Williams eine erschütternde Diagnose. Er hat nur noch wenige Monate zu leben. Nun muss er sich fragen: Hat er überhaupt jemals wirklich gelernt? Und könnte er es zumindest jetzt in seinen letzten Monaten?

Akira Kurosawas Film basiert auf einem Roman von Leo Tolstoi. „Living“ ist eine Adaption von „Ikiru“. Dabei geht man sogar soweit, dass man die Handlung wie im Originalfilm in den frühen 1950er Jahren spielen lässt. Für Regisseur Oliver Hermanus war das durchaus herausfordernd, denn er wollte mit seinem Film den Eindruck erzeugen, ein Werk zu präsentieren, das wirklich vor mehr als 70 Jahren produziert worden ist. Dazu setzt er auf ein 4:3-Bildformat, nutzt aber auch eine heute gar nicht gängige Schnittform. Er lässt Szenen den Raum sich zu entfalten. Die schnelle Schnittabfolge modernen Kinos lässt der Regisseur gänzlich fallen. Die Farbpalette ist den Filmen der damaligen Zeit angepasst. Für die einleitende Sequenz wurden Aufnahmen von London aus alten Wochenschauen digital überarbeitet. Dazu kam eine klassische Schriftart für die Stabsangaben und eine Musik, die auch altmodisch anmutet.

„Living“ sieht damit aus wie ein Film, der vor langer Zeit entstand. Seine Geschichte indes hat an Aktualität nichts verloren. Mr. Williams steht stellvertretend für die vielen Menschen, die längst nicht mehr wissen, was es heißt, zu leben. Er ist im Alltagstrott versunken, die Arbeit ist alles, was ihn noch auszeichnet. Dabei ist Mr. Williams der geborene Bürokrat, an den nichts mehr herankommt. Wenn die Frauen mit ihrer Petition im Gebäude von Pontius zu Pilatus geschickt werden, nur um dann wieder dort anzukommen, wo sie begonnen hatten, hat das kafkaeske Züge.

Bill Nighy spielt die Selbstunterdrückung dieses Mannes mitreißend. Er spricht dünner und schwächer, als sonst, geradeso, als fiele es der Stimme von Mr. Williams schwer, den Körper zu verlassen. Mr. Williams ist ein Mahnmal und Inspiration zugleich. Sein Leben gemahnt dazu, zu hinterfragen, wo man selbst steht, und ob man wirklich lebt oder nur noch existiert. Sein Wirken der letzten Monate ist die Inspiration, es ihm gleichzutun. Nicht nur zu leben, sondern auch etwas bewegen zu wollen. Dabei macht er sich keine Illusionen. Wenn es ihm gelingt, den Spielplatz bauen zu lassen, hat er kein Monument hinterlassen, sondern nur etwas, das über kurz oder lang dem Verfall anheimfallen wird. Aber für den Moment, für das Leben der Menschen in diesem Viertel, hat er dann etwas bewegt und verändert. Sein Leben hatte einen Sinn.

Bezeichnend ist die Szene, als seine Kollegen nach der Beerdigung auf dem Weg nach Hause schwören, sich künftig wie er zu engagieren und die Dinge nicht einfach schleifen zu lassen. Aber „Living“ ist ein Film, der sich nichts vormacht. Von dem guten Vorsatz bleibt nichts. Nur ein weiterer Stein im Mosaik dieser traurigen Geschichte eines Lebens. Kein Film, der wirklich Freude bereiten würde, aber einer, der – zumindest für eine kurze Zeit – aufweckt und jedem Zuschauer die Frage stellt: Lebst du wirklich?

 

Peter Osteried