Lore

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Manchmal ist der Blick von Außen genauer: Die australische Regisseurin Cate Shortland versetzt sich in die Stimmung und Gefühle der Menschen im Nachkriegs-Deutschland. „Lore“ erzählt von der Odyssee eines Mädchens und ihrer Geschwister, die den langen Weg vom Schwarzwald zur Großmutter an die Nordsee antreten. Beim Filmfestival in Locarno wurde er 2012 mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.

Webseite: www.lore-der-film.de

Australien/Deutschland/Großbritannien 2012
Regie: Cate Shortland
Drehbuch: Robin Mukherjee
Darsteller: Saskia Rosendahl, Nele Triebs, André Frid, Kai Malina, Ursina Ladi, Hans-Jochen Wagner, Sven Pippig
Verleih: Piffl Medien
Kinostart: 1. November 2012

PRESSESTIMMEN:

Ein Film voller Schönheit und Schrecken über die vermeintliche Stunde Null in Deutschland.
Der Spiegel

FILMKRITIK:

Süddeutschland im Frühjahr 1945. Während die Natur langsam aus dem Winterschlaf erwacht, ist das Leben für viele Menschen an einem Endpunkt angelangt. Auch für die 15-jährige Lore (Saskia Rosendahl) und ihre Familie. Sie wurde von ihrem Vater, einem ranghoher Nationalsozialisten, in dem Glauben an ein 1000-jähriges Reich erzogen – jetzt liegt Deutschland in Trümmern, und der Vater versteckt die Familie bei einem Bauern im Schwarzwald. Kurz darauf werden er und die Mutter (Ursina Ladi) verhaftet. Lore ist mit ihrer Schwester, den Zwillingsbrüdern und dem Säugling Peter auf sich allein gestellt. Die Kinder machen sich auf den weiten Weg an die Nordsee, wo die Großmutter auf einer Hallig lebt. Feindseligkeit, Hunger und Angst sind ihre ständigen Begleiter. Unterwegs begegnen sie dem ehemaligen KZ-Häftling Thomas. Er bringt Lores Weltbild endgültig ins Wanken.

Das Drehbuch basiert auf einem Erzählstrang des Romans „Die dunkle Kammer“ von Rachel Seiffert. Cate Shortland ließ sich auch von der Geschichte der deutsch-jüdischen Familie ihres Mannes inspirieren, die Berlin 1936 verlassen musste. Ihr Film überrascht durch eine ganz unmittelbare Intensität und einen unvoreingenommenen Blick auf die Nation die Täter. Vielleicht zahlt sich hier ihre größere Unbefangenheit und innere Distanz aus. Shortland legt viel Wert auf Authentizität. Sie drehte „Lore“ auf Deutsch und verzichtet auf große, comuptergenerierte Panoramen von zerstörten Städten und Flüchtlingsströmen. Ihr Film hebt sich wohltuend ab von herkömmlichen Kriegs-Dramen, die oft genug auf Schauwerte schielen. „Lore“ ist das Gegenteil: gedreht mit einer Handkamera, die immer nah an den Handelnden bleibt, mit Gespür für sinnliche Farbdramaturgie und Details, mit offenen Augen für den Raum, in dem die Geschichte sich entfaltet. Selten haben in einem Nachkriegsfilm Natur und Landschaft eine so bedeutende Rolle gespielt. Immer wieder fängt die Kamera Pflanzen, Bäume, Wälder und Felder ein. Die Natur macht das Geschehen gleichzeitig konkret und hebt es auf eine metaphorische Ebene. Denn natürlich gehen die Kinder auch auf eine innere Reise, und die Natur wird zu einem Raum, in dem sie zum ersten Mal Freiheit erleben.

Die innere Authentizität des Films ist konsistent mit Cate Shortlands Debüt „Somersault“ (2004), das sich ebenfalls um ein Mädchen dreht, das seine Sexualität entdeckt und darum kämpft, seinen eigenen Platz in der Welt zu finden. Lore muss sich nicht nur mit ihren widerstreitenden Gefühlen für Thomas auseinandersetzen, sondern auch mit der völligen Zerstörung von festen Überzeugungen und tief verankerten Glaubenssätzen. Das Deutschland, das für sie Heimat des Übermenschen war, hat sich verwandelt in ein Land von zerlumpten Gestalten, von Hungrigen, Verbrechern und Schuldbeladenen, zu denen auch ihre Eltern zählen. „Wir haben ihm das Herz gebrochen“, seufzt eine alte Bäuerin mit Blick auf ein Bild des Führers. In einer besonders kraftvollen Szene sieht Lore erstmals Fotos aus den Konzentrationslagern, die von den Alliierten öffentlich ausgehängt werden. Sie berührt das vom Kleister noch nasse Papier, und die klebrige Masse bleibt an ihren Fingern hängen. Die Schuld, sie wird auch die Zukunft von Lore unweigerlich bestimmen.

An einigen Stellen setzt Cate Shortland solche Metaphern etwas überdeutlich ein, besonders am Ende, wenn Lore sich gegen ihre Großmutter auflehnt und endgültig mit ihrem Weltbild bricht. Auch die Geschichte mit Thomas droht, in eine allzu pädagogisch motivierte Dramaturgie zu verfallen. Letztlich bleibt der Film aber doch vielschichtig und mehrdeutig – ein faszinierender Blick auf Nachkriegs-Deutschland.

Oliver Kaever

1945. Die NS-Zeit ist aus. Jedoch nicht, was die Nazi-Größen betrifft. Sie müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Hier geht es um eine Nazi-Familie, Vater, Mutter und fünf Kinder, die alle den „Führer“ liebten und hoch verehrten. Und so schnell sind diese Gefühle auch nicht aus Leib und Seele zu kriegen.

Der Vater war ein hoher SS-Offizier und einer der Verbrecher, die in Weißrussland Juden ermordeten. Jetzt muss er sich verantworten. Die Mutter ebenfalls. Die Kinder sind allein gelassen. Lore, die älteste, muss nun für ihre Geschwister sorgen.

Es geht von Ort zu Ort, von einem verlassenen Gehöft zum andern. Die Fünf müssen sich zu essen besorgen, teilweise betteln. Das jüngste Kind ist gerade ein paar Monate alt. Einer der Buben kommt durch eine Kugel ums Leben. Tagelang ist die Gruppe unterwegs, muss zum Teil schlimme Dinge mit ansehen und tödliche Gefahren überstehen. Eine wirkliche, unverhoffte Hilfe kommt ihnen in Gestalt des etwa 25jährigen Thomas daher. Er ist ausgerechnet Jude. Die Kinder müssen es bis zu ihrer Oma schaffen – von Süddeutschland bis in den ganz hohen Norden.

Zwei Themen stehen im Vordergrund. Wie bekommen junge Menschen, die jahrelang indoktriniert wurden, die falschen Anschauungen wieder aus dem Kop? Ein sehr schmerzlicher Prozess.

Das zweite Thema: Zwei Generationen sind der Krieg und das Morden nun schon vorbei. Wer es nicht miterlebte, soll genau erfahren, was damals geschah. Das wird sich noch eine geraume Zeit hinziehen.

Inszeniert ist das ruhig, mit vielen ausdrucksstarken Aufnahmen, Landschaften und Örtlichkeiten, von den Kindern erstaunlich gut dargestellt. Dass alles derart intensiv und in getragenem Rhythmus ausgespielt ist, wirkt für den Zuschauer einprägsam. Vorlage war ein Roman.

Ein Stück Vergangenheitsaufarbeitung vor allem für jüngere Menschen. Und ein Prozess, der schädliche Ideologien zu bekämpfen hilft.

Thomas Engel