Marieke und die Männer

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Ein Mädchen auf der Suche – nach dem Vater, nach dem Leben, nach dem Erwachsenwerden. Marieke ist äußerlich Kind geblieben, verspielt wie ein Kätzchen. Doch der Eindruck täuscht, denn Marieke ist 20 und ziemlich gut darin, ältere Herren zu verführen, die sie nach dem Sex fotografiert.
Ödipus mal andersrum? Lolita mit der Kamera? – Tatsächlich geht es in diesem Melodram um die Bewältigung der Vergangenheit, weniger um Sex und überhaupt nicht um Voyeurismus. Ein kleiner Film in traumschönen, manchmal tableauhaften Bildern und mit einem dramatischen Finale.

Webseite: www.neuevisionen.de

Originaltitel: Marieke, Marieke
Belgien 2011
Regie und Drehbuch: Sophie Schouken
Kamera: Alain Marcoen
Darsteller: Hande Kodja, Jan Decleir, Barbara Sarafian, Caroline Berliner, Philippe Van Kessel
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 28.06.2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Mutter Jeanne und Tochter Marieke leben unter einem Dach, haben aber wenig miteinander gemeinsam. Das Mädchen arbeitet in einer Brüsseler Schokoladenfabrik, ebenso wie ihre beste Freundin Anna. Marieke hat ein Geheimnis, das sie vor beiden verbirgt: Sie verführt Männer jenseits der Sechzig, hat mit ihnen Sex und fotografiert sie – ihre alternden Körper, Hände, Füße. Die Fotos hütet sie sorgfältig, sie nutzt einsame Momente, um aus den kunstvollen Detailbildern neue Körper zusammenzusetzen. Marieke ist weniger Femme fatale als Künstlerin, so scheint es, mit einer Vorliebe fürs Morbide. Was treibt sie an? Warum erträgt sie es nicht, mit Jungs in ihrem Alter herumzuknutschen?

Langsam klären sich die Hintergründe: Als Marieke acht Jahre alt war, verlor sie ihren Vater, einen Schriftsteller. Marieke hat ihn beinahe vergessen, denn ihre Mutter Jeanne hat alle Erinnerungen an ihn vernichtet. Doch nun, 12 Jahre später, steht plötzlich Jacoby vor der Tür. Er war Jeannes Liebhaber, bester Freund und Verleger des Toten. Jacoby bringt nicht nur die sorgsam bewahrte, scheinbar friedliche Welt von Mutter und Tochter ins Wanken, sondern er führt Marieke zurück in die Vergangenheit, in das Haus ihrer Kindheit. Und Marieke beginnt sich zu erinnern.

Anders als der deutsche Verleihtitel vermuten lassen könnte, ist dies keine Komödie, sondern ein Melodram mit gelegentlichen Anklängen an Psychothriller. Dafür sorgen vor allem die Rückblenden, die langsam enthüllen, was damals geschah. Marieke sieht sich als kleines Mädchen, das Türen öffnet – ein starkes Symbol für das, was mit der erwachsenen Frau geschieht. Denn hinter den Türen warten die Erinnerungen, schöne und schreckliche Begegnungen mit Menschen und Gefühlen. Die erwachsene Marieke sehnt sich nach menschlicher Wärme, nach Aufmerksamkeit und Liebe. Im Verhältnis zu ihren Liebhabern, aber vor allem in der Beziehung zu ihrer Mutter offenbaren sich die Defekte, die aufgrund ihres kindlichen Traumas entstanden: Kälte und Sprachlosigkeit herrschen zwischen Jeanne und Marieke. Beide sind von Schuldgefühlen gefesselt. Als Jeanne die Obsession ihrer Tochter entdeckt und die Fotos der alten Männer findet, ist sie zuerst geschockt, vor allem jedoch erkennt sie, dass sie als Mutter versagt hat. Es gibt kein Vertrauen zwischen den beiden. Und Jeanne macht es nur noch schlimmer: Statt Verständnis für sich und ihr Kind zu zeigen, bricht sie mit ihrer Tochter. Auch Anna, Mariekes Freundin, wendet sich von ihr ab. Marieke ist allein, auf sich gestellt, sie findet Halt in den Gesprächen mit Jacoby und in dem verlassenen, alten Haus, in dem sie einst mit Vater und Mutter wohnte. Ihre Erinnerungen werden intensiver. Sie führen Marieke direkt in die Katastrophe – und zum Neubeginn.

Die psychologisch interessante Geschichte wird in sanften Bildern erzählt, lange Einstellungen und gedeckte Farben unterstreichen die Ernsthaftigkeit, mit der Sophie Schoukens ihr Spielfilmdebüt angegangen ist. Wasser spielt eine wichtige Rolle in diesem Film: Mutter und Tochter in der Badewanne, Jeanne bei der Arbeit im Schwimmbad, und am Ende ist Marieke bei ihr, die hoffnungsvoll in ein neues, besseres Leben schwimmt. Das Wasser reinigt, es erinnert an die Schwerelosigkeit vor der Geburt, an das Glück, nichts zu kennen und nichts zu wissen. Handje Kodja spielt die Marieke als unschuldiges großes Kind, das zwischen kühler Berechnung und ungestillter Sehnsucht den Weg in die Normalität sucht. Sie wirkt nicht wie eine junge Frau, sondern eher wie ein kleiner Teenie: mal unsicher, mit eingezogenen Schultern und wehem Blick, dann wieder lebenshungrig und fröhlich. Barbara Sarafian ist die kühle, scheinbar gefühllose Mutter – eine Frau, die ihre Sehnsüchte verloren hat. Den Jacoby spielt Jan Decleir als sympathischen Weisen mit Humor und Verständnis. Vielleicht nicht ganz unbeabsichtigt sorgt er für Bewegung im festgefahrenen Gefüge der verwundeten Seelen. Und Jaques Brel singt dazu das traurig schöne, leidenschaftliche Lied von Marieke.

Ein anspruchsvoller, sensibler Film für ein reifes Publikum, das bereit ist, sich auf eine ungewöhnliche Geschichte um seelisch bedingte Komplikationen einzulassen, und das die Schönheit und Finesse einer kunstvoll erdachten Bildsprache zu schätzen weiß.

Gaby Sikorski

Marieke ist um die 18, eine Zeit, in der man noch nach dem eigenen Leben sucht. Ihr Vater ist tot, und seitdem lebt ihre Mutter zwar äußerlich noch, hat aber innerlich aufgehört zu leben. Das Verhältnis zwischen den beiden ist denn auch mehr als gespannt.

Mit jungen Männern kann Marieke nichts anfangen. Einmal versucht sie es in einer Diskothek, das Ergebnis ist eine Beinahe-Vergewaltigung. Ihre Freundin zieht sie zwar ab und zu aus dem Schlamassel, ist aber im Grunde keine sehr große Hilfe.

Besser steht es mit älteren Männern. Marieke hat einen Freund, den sie sehr liebt, der aber immer nur kurz zum Schlafen auftaucht. Ihr Hobby oder ein psychisch bedingter Trieb: Sie fotografiert ihren Freund in allen Lagen und mit jedem Körperdetail.

Jacoby, der Freund des toten Vaters (und einstiger Geliebter der Mutter), taucht nach über zehn Jahren wieder auf. Hängt der Tod von Mariekes Vater mit dieser Liebschaft zusammen? Das Mädchen fühlt sich gleich zu Jacoby hingezogen, doch der liebt ihre Mutter. Sie blitzt ab.

Immerhin findet sie durch Jacoby Zugang zu ihrer ihr bisher verschlossenen Kindheit. Und sie kann das Geheimnis um den Tod des Vaters lüften.

Ein reines (belgisches) Psycho-Stück, mit dem die Regisseurin versucht, in die Seele, in die Kindheit, in das Verlangen nach Liebe, in die geistigen Abgründe, in die Eigenarten, in das Tochter-Mutter-Verhältnis, in die Trauer dieser jungen Frau vorzudringen.

Hande Kodja (Marieke), Barbara Sarafian (Mutter) und Jan Decleir (Jacoby) heißen die drei Hauptdarsteller, die hierzulande vielleicht nicht so bekannt sind, die sich jedoch mit ihrem Spiel sehen lassen können.

Eine dramatische Handlung gibt es nicht, man muss Mitgefühl und Verständnis für psychische Stresszustände, Schwankungen und Differenzierungen ins Kino mitbringen. Tut man das, hat man etwas davon.

Thomas Engel