May December

Zum Vergrößern klicken

Zwei sensationelle Stars in einem sensationellen Melodram von Todd Haynes („I’m not there“). Natalie Portman und Julianne Moore spielen hintergründig und mit perfidem Witz zwei Frauen, die sich unter ganz besonderen Umständen kennenlernen: Die eine – Elizabeth Berry (Natalie Portmann) – spielt eine Schauspielerin, die die andere – Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) – in einem Spielfilm verkörpern soll. Denn Gracie ist nicht nur Ehefrau und Mutter, sondern sie hat für ihre Liebe zu einem 13-Jährigen viele Jahre im Gefängnis gesessen. Seitdem sind viele Jahre vergangen, und die beiden sind schon lange verheiratet. Doch die Verfilmung von Gracies Leben rührt so einiges wieder auf, und Elizabeth ist alles andere als zurückhaltend, wenn sich die Gelegenheit bietet, in schlecht verheilten Wunden zu bohren.

Webseite: https://www.wildbunch-germany.de/movie/may-december

Regie: Todd Haynes
Drehbuch: Samy Burch
Darsteller: Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Cory Michael Smith, Piper Curda, Elizabeth Yu
Kamera: Christopher Blauvelt
Komponist: Marcelo Zarvos

Länge: 113 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Start: 30. Mai 2024

FILMKRITIK:

Unterschwellige Spannung, dramatische Musik, gleißende Helligkeit … das sind die atmosphärisch starken Vorzeichen, unter denen die Handlung ihren Anfang nimmt. Erst nach und nach werden die Zusammenhänge klar: Da ist eine Familie, in der die beiden jüngsten Kinder demnächst ihren Highschool-Abschluss feiern werden, und da ist eine berühmte Schauspielerin, die aus zunächst unklaren Gründen quasi in die Familie aufgenommen wird. Alle verstehen sich gut, Joe und Gracie sind ein glückliches Ehepaar mit wohlgeratenen Kindern. Doch die scheinbar heile Welt zeigt schon bald erste Risse, und auf der Treppe zum Haus liegt nicht zum ersten Mal ein Paket mit Exkrementen.

Bald stellt sich heraus, dass es sich bei Gracie um eine ehemalige Straftäterin handelt: Sie hatte sich als verheiratete Frau von Mitte 30 in den 13-jährigen Joe verliebt. Die beiden begannen ein heimliches Verhältnis, das schließlich aufflog – dafür musste Gracie ins Gefängnis, doch nachdem sie ihre Strafe abgebüßt hatte, heiratete sie den inzwischen volljährigen Joe. Das ist mittlerweile mehr als 20 Jahre her, und nun soll Gracies und Joes Geschichte verfilmt werden – mit Elizabeth in der Hauptrolle. Sie ist hochmotiviert und möchte sich so gut wie möglich auf die schwierige Rolle vorbereiten. Dafür will sie nicht nur Gracie und Joe, sondern auch deren gesamtes Umfeld kennenlernen. Aus verständlichen Gründen tut Gracie alles, um ein möglichst positives Bild von sich, ihrer Ehe, ihrer Familie und ihrem Leben zu vermitteln. Und Elizabeth ist dankbar für jede Form von Unterstützung, ganz gleich, ob es um Kuchenrezepte oder Schminktipps geht. Sie nimmt alles an, verbringt viel Zeit mit Gracie, und es scheint, als ob sich die beiden Frauen anfreunden. Doch der Schein trügt …

„May December“ – das bedeutet im Englischen die Verbindung eines Paares mit großem Altersunterschied – hier also der junge Joe und die deutlich ältere Gracie. Aber dieses Thema steht eigentlich gar nicht im Vordergrund und noch weniger die juristischen Einzelheiten. Vielmehr geht es zunächst vorrangig um die Beziehung zwischen Gracie und Elizabeth. Todd Haynes, spätestens seit „Carol“ (2015) der Spezialist für komplizierte Frauengeschichten, stattet seinen neuesten Film mit einer formidablen Thriller-Atmosphäre aus. Die Musik, die Schnittführung, die Kamerapositionen … kurz: die gesamte Dramaturgie erinnern stark an einen Thriller. Von Anfang an liegen Vorahnungen in der Luft, eine unterschwellige Spannung, die sich immer mehr steigert. Was wird geschehen? Dieser Umgang mit Suspense erinnert einerseits an den Altmeister Alfred Hitchcock, aber auch an große französische Filme der 60er und 70er Jahre. Die Betonung der schauspielerischen Leistung und die Darstellung der Frauencharaktere wiederum hat etwas von John Cassavetes, wobei Todd Haynes Umgang mit dem Darstellerteam weniger lässig und dafür humorvoller wirkt. Doch Todd Haynes schafft noch mehr: Er spielt mit den Erwartungen des Publikums, lässt die Fäden mal etwas lockerer, um sie gleich darauf wieder anzuspannen. Er serviert die komplizierte Geschichte quasi häppchenweise, lässt es aber vollkommen im Unklaren, was noch alles geschehen könnte und wie die ganze Sache ausgeht. Es gibt lediglich immer wieder Andeutungen, die Todd Haynes mit einer Art augenzwinkernder Ironie serviert. Besonders in der zweiten Hälfte bekommt dann auch Charles Melton als Joe mehr Gewicht. Er spielt mit leiser Melancholie den attraktiven, virilen Mann, der – natürlich absichtsvoll – eher wie ein großer Bruder seiner Kinder wirkt. Als Hobby hat er ein Biotop, in dem er Schmetterlinge züchtet. Sie verpuppen sich, irgendwann schlüpfen sie und fliegen los. Das hat natürlich einen gewissen, ziemlich offenkundigen Symbolcharakter.

Eines ist klar: Es geht hier nicht oder nicht nur um die Vergangenheit, um das, was damals zwischen Joe und Gracie passiert ist, sondern auch um die Gegenwart – also um die Ehe zwischen dem immer noch jungen Mann und seiner 25 Jahre älteren Frau, um ihre Familie und um die Basis ihrer Beziehung, insgesamt im Spiegel und aus dem jeweiligen Blickwinkel von Gracie und Elizabeth betrachtet. Dabei kann sich Todd Haynes auf seine beiden Stars verlassen. Jede für sich ist elegant, anmutig und geheimnisvoll. Manchmal scheinen sie sich sehr stark zu ähneln, auch äußerlich, manchmal sind sie vollkommen gegensätzlich. Aber ist Gracie wirklich naiv oder tut sie nur so? Ist Elizabeth wirklich so souverän, wie sie sich präsentiert? Und was macht das eigentlich mit einer Frau, die zusehen muss, wie eine andere in ihr Leben und ihre Persönlichkeit schlüpft? Wie Julianne Moore und Natalie Portman im Zusammenspiel und jede für sich ihre Rollen entwickeln, ist extrem beeindruckend, wobei die jeweiligen Sympathien mit ihnen durchaus wechseln können. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob es in den Dialogen der beiden Frauen um Bekenntnisse oder ums Versteckspielen geht, ob man sie mag oder Mitleid mit ihnen hat. Und Todd Haynes scheint ein Meister darin zu sein, in Andeutungen zu arbeiten, was von den beiden Stars virtuos umgesetzt wird. Ein perfektes Melodram? – Und die Antwort lautet: Ja.

 

Gaby Sikorski