Memory Games

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Einen faszinierenden Einblick in die schier unendlichen Möglichkeiten des menschlichen Gehirns bietet die Dokumentation von Janet Tobias und Claus Wehlisch. Gemeinsam mit vier Protagonisten, allesamt hoch dekorierte Profis im internationalen Gedächtnissport, reisen sie um die Welt und in die Tiefe ihrer individuellen Gedächtnispaläste. Neben Interviews und Bildern von Wettkämpfen gibt es dabei viele aufwändige Tricksequenzen, in denen dargestellt wird, wie die Visualisierung funktioniert. Insgesamt ein interessanter, kleiner Film, der vielleicht ein jüngeres, in jedem Fall aber wissensdurstiges Publikum anspricht.

Webseite: www.neuevisionen.de

Dokumentarfilm
Deutschland, USA, Schweden 2018
Drehbuch und Regie: Janet Tobias, Claus Wehlisch
Kamera: Zac Nicholson
85 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 3.10.2019

FILMKRITIK:

Yanyaa ist eine junge Frau, die in der Mongolei geboren wurde und in Schweden lebt, wenn sie nicht gerade um die Welt reist. Sie spricht mehrere Sprachen, aber das ist noch nicht alles: Sie ist Gedächtnissportlerin und mehrfache Erinnerungsweltmeisterin – so kann sie sich beispielsweise innerhalb von 5 Minuten 400 zufällig ausgewählte Bilder einprägen oder riesige Zahlenkolonnen auswendig lernen und repetieren. Zum Gedächtnistraining kam sie als junges Mädchen, als sie das Buch „Moonwalking with Einstein“ (Deutsch: „Moonwalk mit Einstein“) las, das der Gedächtnissportler Joshua Foer geschrieben hatte. Kurze Zeit später trat sie bei den ersten Wettbewerben an. Johannes und Simon sind Yanyaas Kollegen bzw. Kontrahenten und kommen aus Deutschland. Beide sind nicht nur Gedächtnissportler, sondern auch –trainer. Das gleiche gilt für den US-Amerikaner Nelson Dellis, der über die Alzheimerkrankheit seiner Großmutter zum Gedächtnissport fand. Alle vier treffen sich zur Gedächtnisweltmeisterschaft in Jakarta.

So unterschiedlich die vier Persönlichkeiten sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie schulen ihr Gedächtnis mit Techniken, die teilweise älter als 2000 Jahre sind. Die Grundlage ihrer phänomenalen Fähigkeiten ist der Gedanke, dass man sich Informationen besser merken kann, wenn man Bilder dazu findet. Jeder dieser vier Profis hat einen eigenen „Gedächtnispalast“. So nennen sie den Ort, wo Wissen und Informationen mnemotechnisch abgespeichert und abgerufen werden können. Dabei machen sie sich zunutze, dass das menschliche Gehirn sehr gut mit Assoziationen arbeitet, die sich visualisieren lassen. So werden Ziffern zu Buchstaben – eine 1 wird beispielsweise zu einem I –, daraus entstehen Wörter oder Wortgruppen und schließlich Bilder. Informationen werden auf diese Weise kodiert und abgerufen, und das in allerkürzester Zeit. Janet Tobias und Claus Wehlisch zeigen diese Techniken im Film mit animierten Sequenzen, in denen sie durch die Gedächtnispaläste ihrer Protagonisten wandern, die sich stark voneinander unterscheiden. Die Bilder dazu sind originell und unterhaltsam, so dass man einen guten Eindruck davon erhält, wie die Mnemotechniken funktionieren könnten. Zusätzlich bringen sie in spielerischer Form einige Symbole und Zeichen in den Zwischentiteln unter. Die „Memory Games“ sind hier durchaus wörtlich zu verstehen, so wie auch bei den vier Gedächtnissportlern Wettkampf und Spiel miteinander verschmelzen.

Wenn die Protagonisten von sich selbst erzählen, versteht man immer besser, wie sie vorgehen, mit welchen Mitteln sie sich scheinbar nebenbei Hunderte von Bildern in wenigen Minuten einprägen können oder ein komplettes, willkürlich gemischtes Kartenspiel in wenigen Sekunden genauso wieder zusammenlegen können, wie sie es vorgefunden haben. Je besser man sie kennenlernt, desto sympathischer werden die Vier außerdem, und auch dies ist sicherlich beabsichtigt – der Film ist nicht als Anleitung zu verstehen, wie man sein eigenes Gedächtnis verbessern könnte, sondern eher als Anregung, sich dem Thema anzunähern. Die Lebensgeschichten der Protagonisten, die in abwechslungsreichen Interviews dargestellt werden, münden schließlich in den Wettbewerb und geben der Handlung dadurch eine gewisse Geschlossenheit. Bei allem Anspruch und trotz eindeutig erkennbarer Sympathien vor allem für Yanyaa, die als Frau sozusagen automatisch zu den Außenseitern in der Gedächtnissportszene gilt, bleibt der Film dokumentarisch distanziert, was ein bisschen zu Lasten der dramaturgischen Spannungsbögen geht.

Auch wenn die Dokumentation vermutlich kaum Breitenwirkung erzielen dürfte, ist sie doch ein interessanter und lehrreicher Beitrag über menschliches Potenzial und dessen Möglichkeiten, also durchaus anspruchsvoll und ein Tipp für bildungshungrige Kinofans. Und wenn am Ende Nelson erzählt, wie er sich als Gedächtniskünstler ein paar Gratismahlzeiten verdient hat, dann ist das der passende humorvolle Abschluss eines liebevoll und gut gemachten kleinen Dokumentarfilms.

Gaby Sikorski