Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir

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Im von Kurden geprägten Osten der Türkei siedelt Miraz Betar seinen Debütfilm „Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir“ an. In zurückgenommenen Bildern beschreibt der Film den sozialen Verfall eines Geschwisterpaars, dessen Eltern von der türkischen Geheimpolizei ermordet wurde. Ein eindringlicher Film, der sich bisweilen etwas unglücklich zwischen Impressionismus und narrativer Stringenz bewegt.

Webseite: www.mitosfilm.com

Deutschland, Türkei 2009
Regie: Miraz Bezar
Drehbuch: Miraz Bezar
Kamera: Isabelle Casez
Schnitt: Miraz Bezar
Musik: Mustafa Biber
Darsteller: Senay Orak, Muhammed Al, Hakan Karsak, Suzan Ilir, Berivan Ayaz, Fahriye Celik, Alisan Önlü
Länge: 101 Min.
Verleih: Mitosfilm
Kinostart: 22. April 2010
 

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Regisseur und Autor Miraz Bezar lebt seit seiner Kindheit in Berlin und hat dort auch studiert. Für seinen ersten Spielfilm kehrte er in seine türkische Heimat zurück, lebte und recherchierte mehrere Jahre in Diyarbakir, Provinzhauptstadt im anatolischen Osten der Türkei. Die Bevölkerungsmehrheit der Millionenstadt ist kurdischer Herkunft, die politische Macht allerdings haben sie nicht. Doch „Min Dit“ ist nur bedingt ein politischer Film, der die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei schildert, vor allem auch die Machenschaften einer geheimen Polizeieinheit thematisiert. In erster Linie beschreibt Miraz Bezar das Schicksal eines Geschwisterpaares, deren Leben zunehmend haltloser wird.

Zu Beginn sind die 10-jährige Gulistan und ihr kleiner Bruder Firat noch wohlbehütet, genießen ihr Leben mit ihren Eltern. Doch bei der Rückkehr von einer Hochzeit wird das Auto angehalten und in einem abrupten Moment der Gewalt die Eltern ermordet. In der zurückhaltenden Weise, wie diese Gewalttat gezeigt wird, zeigt sich schon hier eine der Stärken von Bezar, die sich durch den Film zieht. Er beobachtet mit Distanz, überhöht die Gewalt, das Elend nicht, ohne aber in Beliebigkeit zu verfallen.

Zunächst kommen die Geschwister bei ihrer Tante unter, die bald nach Istanbul reist, um Ausreisevisa zu organisieren. Doch die Tage vergehen, keine Nachricht kommt, die Kinder verkaufen nach und nach die Einrichtung und landen schließlich auf der Straße. Hier setzt sich ihr Verfall fort: Sie kommen in Kontakt mit anderen Straßenkindern, beginnen Pfennigware zu verkaufen und in Ruinen zu leben. Gulistan freundet sich mit einer Gelegenheitsprostituierten an, die ihr durch Zufall den Weg zum Mörder ihrer Eltern weißt. Der lebt unbehelligt mit Frau und Kind in einer schönen Wohnung und wird nun Opfer einer subtilen Rache durch Gulistan und ihre Freunde.

Sowohl der deutsche Untertitel – Die Kinder von Diyarbakir – als auch der Originaltitel „Min Dit“, übersetzt etwa „Ich habe gesehen“, deuten an, dass die intendierte Perspektive des Films die Kinder sind. Durch ihre Augen soll ihr Schicksal erzählt, ihr schleichender sozialer Abstieg gezeigt werden. Und immer wenn Bezar dieser Perspektive treu bleibt, in seiner zurückhaltenden Weise schildert, wie Gulistan und Firat zu überleben versuchen, hat der Film seine stärksten Momente. Fast dokumentarisch mutet „Min Dit“ in diesen Momenten an, hier zahlt sich die lange Vorbereitungszeit des Projekts aus.

Immer wieder aber durchbricht Bezar diese Perspektive, verlässt den Blick der Kinder und wechselt mal zur in Istanbul verhafteten Tante, dann zum Polizisten und seinem angenehmen Leben. Es waren wohl die gefühlte Notwendigkeit der Geschichte, das Verlangen, ein umfassenderes Bild der kurdischen Situation zu entwerfen, die Bezar zu dieser Entscheidung führte. Die Folge ist allerdings, dass die starken, impressionistischen Szenen vom Leben der Kinder auf der Straße immer wieder von stark narrativ geprägten Momenten unterbrochen werden, die weniger gelungen sind. Immer dann aber, wenn die Hauptdarstellerin Senay Orak im Mittelpunkt steht, vor allem ihre eindringlichen braunen Augen, die schon viel zu viel gesehen haben, dann ist „Min Dit“ das subtile, eindringliche Portrait eines Teils der Gesellschaft, die nicht nur in der Türkei zu finden ist.

Michael Meyns

Die Kurden streben in der Region, in der sie beheimatet sind, verständlicherweise politische Autonomie und ein eigenes Staatsgebiet an, die Anrainerländer bekämpfen dies. In den 90er Jahren nahm die Auseinandersetzung vor allem mit der Türkei katastrophale Ausmaße an. Von dieser Zeit – wenn auch unausgesprochen – handelt der Film.

Es treiben sich Paramilitärs herum, die willkürlich Kurden ermorden. Nuri Kaya ist einer von ihnen. Die Eltern des Mädchens Gulistan und des Jungen Firat fallen einem solchen Verbrechen zum Opfer.

Die Kinder sind nun auf sich selbst gestellt. Sie können die Wohnung nicht mehr bezahlen, müssen ihre Möbel verkaufen, sie schlafen auf der Straße, schlagen sich mit kleinen Verkäufen durch, haben nur wenige Freunde.

Ihr kleinstes Schwesterchen stirbt deshalb.

Von der Mutter haben sie noch die Geschichte im Ohr, dass ein angriffslustiger Wolf nicht unbedingt getötet werden müsse, sondern dass es genüge, ihm eine Glocke um den Hals zu hängen, damit jeder gewarnt sei.

Gulistan freundet sich mit der Prostituierten Dilara an. Durch diese trifft sie eines Tages den einen braven Familienvater mimenden Nuri Kaya, den Mörder ihrer Eltern. Durch eine List kann sie sich seiner Waffe bemächtigen, tötet ihn aber nicht, sondern warnt ihre kurdischen Landsleute vor ihm, dem Paramilitär und Verbrecher – wie in der Geschichte mit dem Wolf.

Ein ruhig, diskret, fast zeitlos, parabelhaft für Vieles stehender Film, in dem auch – ohne Betonung – der Hinweis auf die Verbrechen an den Armeniern nicht fehlt. Das schmerzliche und gefährdete Leben der Kurden in Diyarbakir und überhaupt der Region wird stellvertretend eindrucksvoll geschildert. Ein leidvolles Gesellschaftsbild von einigem Rang.

Die Auswahl der beiden Kinderdarsteller Senay Orak (Gulistan) und Muhammed Al (Firat) war ein Glücksfall. Gulistans melancholischer Blick bleibt in Erinnerung. Eine Leistung, dass Regisseur Miraz Bezar (mit Hilfe von Fatih Akin und Klaus Maeck) diesen Film mit verhältnismäßig geringen Mitteln auf die Beine stellen konnte.

Thomas Engel