Mitgefühl – Pflege neu denken

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Pflegeheime für Alte und Demente mögen sich noch so sehr bemühen: Oft bleiben sie Verwahrstätten für vereinsamte Menschen. Richtig gute Heime suchen die Kinder der Betroffenen wie eine Nadel im Heuhaufen. Der dänische Dokumentarfilm von Louise Detlefsen muss ihnen daher wie ein Märchen vorkommen. Das Porträt dieses Ausnahmefalls ist für das Pflegethema so etwas wie „Herr Bachmann und seine Klasse“ im Schulbereich. Beide Filme zeigen: Menschlichkeit und gleiche Augenhöhe sind möglich, sowohl im jungen wie im ganz hohen Alter.

Website: www.weltkino.de/filme/mitgefuehl

Dänemark, Deutschland 2021
Regie: Louise Detlefsen
Drehbuch: Louise Detlefsen
Mitwirkende: May Bjerre Eiby, Lotte Nørreslet, Inge & Jørgen, Vibeke & Thorkild, Grethe, Birthe
Laufzeit: 96 Minuten
Verleih: Weltkino
Kinostart: 23.9.2021

FILMKRITIK:

Bevor Vibeke und Thorkild eintreffen, kommt erst einmal ein großer Möbelwagen. Hier, im dänischen Dagmarsminde, bezieht das alte Apotheker-Ehepaar sein neues Zuhause. Bei Vibeke wurde Alzheimer diagnostiziert, sie kann nicht mehr sprechen und nicht richtig essen. Ihren Mann Thorkild macht das manchmal wütend. Er erträgt es nicht, seine einst vergötterte Frau so zu sehen. Ihre Krankheit verdrängt er, und in ein Pflegeheim will er schon gar nicht. Die Kinder haben ihren betagten und hilflosen Eltern gesagt, das hier sei eine Reha. Es gehe darum, dass Vibeke wieder laufen lerne. Auch das Team des kleinen privaten Pflegeheims beschließt, Thorkild zu schonen, ohne ihn anzulügen. Wie das aussehen kann, erfahren wir ein paar Szenen später. Thorkild möchte im Garten spazieren, hat sich von der Garderobe aber eine Frauenjacke genommen. Die liebevolle Pflegerin, die jeden berührt und streichelt, übergeht den Faux Pas elegant: „Thorkild, ich hole dir deinen Mantel, diese Jacke ist nicht warm genug“.

Wie in einer großen Familie leben in der ehemaligen Tischlerei elf bis zwölf alte Menschen zusammen. Alle passen um den großen Frühstückstisch, wo am nächsten Morgen einer nach dem anderen aus seinem eigenen Zimmer eintrudelt. Warum ihr die menschliche Wärme, das In-den-Arm-Nehmen und Über-die-Schulter-Streicheln, so wichtig sind, erklärt Heim-Gründerin May Bjerre Eiby einer französischen Besuchergruppe auf sehr persönliche Weise. Sie arbeitete schon mit 17 in einem normalen Pflegeheim und war schockiert. Die alten Menschen wurden allein gelassen, die Stimmung war gereizt und aggressiv. Jahre später musste ihr eigener Vater in ein Heim. Nach fünf Monaten starb er an schwerer Vernachlässigung, so empfand sie es. Damals fiel der Entschluss, etwas zu ändern. Eibys Pflegekonzept heißt deshalb „Mitgefühl und Umsorgung“. Abstrakte Worte, die Louise Detlefsens einfühlsame filmische Beobachtung mit Leben füllt.

Ein wenig geht der Film mit dem Zuschauer so um wie die Pflegerinnen mit ihren Schützlingen. Er scheint das Publikum zu streicheln, lyrische Naturbilder unterbrechen das Geschehen, ähnlich dem gemeinsamen Singen als Ruhepol im Alltag dieser betreuten Wohngemeinschaft. Die sanft geführte Handkamera von Per Fredrik Skiöld mischt sich unauffällig ins Geschehen. Sie kommt den individuellen Eigenheiten jedes einzelnen so nahe, dass sie erst unmittelbar vor der Intimsphäre halt macht – aber das so nachdrücklich, dass die Würde der betagten Frauen und Männer nicht nur gewahrt wird, sondern geradezu gefeiert. Es ist, als sei das Filmteam gar nicht im selben Raum gewesen, so unmittelbar verschaffen die respektvollen Bilder einen Einblick in die Atmosphäre des liebevollen Miteinanders. Trotz der idyllischen Lage des Heims mit seinen Tieren und dem Garten vermeidet Regisseurin Louise Detlefsen aber den Anschein eines Paradieses. Es gibt Probleme, und das größte ist natürlich das Altern selbst, das auch Heim-Gründerin May Bjerre Eiby nicht wegzaubern kann und will.

Die Botschaft des Films liegt in den Bildern. Sie wird nicht ausgesprochen und ist doch jedem Betrachter klar: Eine menschliche Pflege, auch von schwer Demenzkranken, ist möglich. Wie das im Einzelnen funktioniert – auf welcher Finanzbasis, mit welcher Unterstützung von Pflegekassen und Staat – ist nicht Teil des dramaturgischen Konzepts. Zu viel Faktenhuberei, Interviews, Positionen und Gegenpositionen, würden den sanften Bilderfluss stören und ihm seine Intensität nehmen. Auch wenn es nicht einfach sein mag, sich implizit mit der letzten Phase des eigenen Lebens zu beschäftigen – hier wird es dem Zuschauer so zärtlich und behutsam nahegebracht, wie die Pflegerinnen von Dagmarsminde mit ihren Schützlingen umgehen.

Peter Gutting