Mittagsstunde

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Ein Film über Familie, Heimat und Zuhause. Im Mittelpunkt der Verfilmung des Bestsellers von Dörte Hansen steht das Dorf Brinkebüll in Nordfriesland. Ingwer Feddersen ist hier geboren und aufgewachsen, und nun, mit Ende 40, kehrt er aufs Land zurück, um seine Großeltern zu pflegen. Dabei begegnet er noch einmal seiner Kindheit. Lars Jessen hat einen sehr sehenswerten Film von beinahe zärtlicher Ruppigkeit geschaffen, mit dem großartigen Charly Hübner in der Hauptrolle: so knorrig, so schweigsam … und so liebenswert.

Deutschland 2022
Regie: Lars Jessen
Drehbuch: Catharina Junk (nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen)
Darsteller: Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, Rainer Bock, Gabriela Maria Schmeide, Gro Swantje Kohlhof, Lennard Conrad, Julika Jenkins, Nicki von Tempelhoff, Jan Georg Schütte
Bildgestaltung: Kristian Leschner
Musik: Jakob Ilja

Länge: 93 Minuten
Verleih: Majestic
Kinostart: 22. September 2022

FILMKRITIK:

Die Welt hat sich geändert, doch der Gasthof Feddersen ist geblieben, in seiner ganzen ziegelroten Pracht. Hier leben noch immer Sönke und Ella Feddersen, Ingwers Großeltern, beide inzwischen über 90 und absolut nicht willens, ihr Haus zu verlassen und in ein Heim zu gehen. Dabei wird Ella wird immer tüdeliger, und Sönke, der immer noch hinter dem Tresen steht, ist schlecht zu Fuß. Er hat nur noch einen Wunsch: den 70. Hochzeitstag mit Ella zu erleben, die Gnadenhochzeit. Um die beiden zu versorgen, hat Ingwer ein Sabbatjahr an der Uni Kiel genommen, wo er Hochschullehrer ist. Für die Olen, die Alten, kehrt er nach Brinkebüll zurück, an die Stätten seiner Kindheit und Jugend. Mit jedem Schritt begegnet er hier den eigenen Erinnerungen, und er begegnet sich selbst: einem unsicheren Kind, das bei den Großeltern aufwächst. In der scheinbar vertrauten Umgebung des alten Gasthofs warten alte Familiengeheimnisse darauf, von Ingwer enthüllt zu werden. Das alte Dorf aber existiert nicht mehr, Brinkebüll hat sich verändert: Die vielen kleinen Geschäfte sind verschwunden, stattdessen säumen gesichtslose Einfamilienhäuser die menschenleeren Straßen. Wo früher wimmelndes Leben war, herrscht heute Friedhofsruhe. Die alte Kastanie auf dem Kirchplatz, das Storchennest, die Dorfschule … all das gehört der Vergangenheit an, so wie die Geschichte von Marret, die so schön singen konnte.

Vor allem dank des kongenialen Drehbuchs von Catharina Junk (u. a. DIE DUNKLE SEITE DES MONDES) und einer tollen Besetzung hat Lars Jessen (u. a. DORFPUNKS, FRAKTUS) einen bewegenden Film geschaffen, der die Vergangenheit zeigt, ohne sie zu verklären, und damit die Gegenwart ohne Worte erklärt. Das Drama bleibt dabei stets bei einer freundlichen Leichtfüßigkeit, auch wenn die Geschichte oft spannend oder tragisch wird. Lars Jessen bildet ganz ohne Nostalgie eine Realität ab, die so überzeugend wie authentisch ist. Er zeichnet mit feiner Feder ein Milieu nach, das sich über einen Zeitraum von 50 Jahren stark verändert hat. Der Tante-Emma-Laden, der Dorfgasthof als gesellschaftlicher Mittelpunkt für alle, darin die Musicbox mit den immer wieder gespielten deutschen Schlagern … Ingwer Feddersen trauert nicht seiner Kindheit nach, er begegnet ihr und, so wie es seine Art ist, er sieht sich das alles an und macht weiter. Wie der Film mit der verstreichenden und verstrichenen Zeit umgeht, ist dabei tatsächlich höchste Kunst. Ähnlich wie in der Romanvorlage gibt es viele Zeitsprünge, doch Lars Jessen verbindet die unterschiedlichen Bilder, ohne dass Irritationen aufkommen. Die beiden Zeitebenen – 2012 und die 60er bis 80er Jahre – werden von unterschiedlichen Darstellern verkörpert. Zwischen ihnen und zwischen den Zeiten spielt Gro Swantje Kohlhof mit viel Sensibilität die geheimnisvolle Merrat, ein leicht zurückgebliebenes Mädchen, das wunderschön singen kann. Peter Franke ist als alter Kröger (Wirt) Sönke das Musterbeispiel eines in Würde alternden Sturkopfes, seine jüngere Version spielt Rainer Bock mit sehr viel unterschwelliger Wärme. Hildegard Schmahl und Gabriele Maria Schmeide spielen einfühlsam und authentisch die alte und die jüngere Ella. Doch Charly Hübner überstrahlt sie alle mit seiner knurrig knorrigen Präsenz, mit seiner Freundlichkeit und Güte, die gleich hinter der schweigsamen Fassade wartet.

 

Gaby Sikorski