Moonrise Kingdom

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Eine spannende Romanze, ein beinahe märchenhafter Rückblick in die Vergangenheit oder eine schrille Sixties-Jugendkomödie? Wes Andersons Film, Eröffnungsfilm von Cannes, ist vor allem eines: 100 Prozent Wes Anderson.
Sein Stil ist ebenso unverkennbar wie unkonventionell: bis ins kleinste Detail durchkomponierte Bilder und ein bizarrer Sinn für Situationskomik – alles schön anzusehen und dabei gelegentlich angenehm boshaft, was den Umgang mit amerikanischen Idealen betrifft. Die Ausreißergeschichte um das jugendliche Liebespärchen Sam und Suzy im New England der 60er Jahre ist aber noch mehr: so amüsant, liebevoll und originell, dass die Starbesetzung beinahe nur wie der Zuckerguss auf einer mehrstöckigen Geburtstagstorte wirkt.

Webseite: www.moonrisekingdom.de

USA 2012
Regie: Wes Anderson
Drehbuch: Wes Anderson & Roman Coppola
Darsteller: Bruce Willis, Edward Norton, Bill Murray, Frances McDormand, Tilda Swinton
Musik: Alexandre Desplat
95 Minuten
Verleih: Tobis
Kinostart: 24. Mai 2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Zu Beginn herrscht die perfekte amerikanische 60er Jahre-Idylle auf der kleinen, beinahe unbewohnten Insel vor New England: Die Bishops sind offenbar eine hochgradig kultivierte Vorzeigefamilie und die Pfadfinder im Sommercamp präsentieren sich als wunderbar disziplinierte Schar fröhlicher Jungs.

Doch ziemlich schnell zeigt sich, dass der Schein trügt. Bei den Bishops regiert das Chaos, und Suzy, die Tochter, hat offenbar ein Geheimnis: Sie beobachtet ihre Umgebung mit dem Fernglas. Auch im Sommerlager herrscht alles andere als Ordnung: Jungscout Sam fehlt beim Frühstücksappell und mit ihm eine komplette Campausrüstung.

Tatsächlich haben sich Sam und Suzy vor einem Jahr bei einer Kirchenaufführung auf der Insel kennengelernt. Seitdem schreiben sie sich Briefe. Und in diesem Sommer werden sie miteinander durchbrennen. Inklusive Zelt und Luftgewehr, Plattenspieler, einer Katze und einem Koffer voller Bücher wollen sie gemeinsam ihrem Unglück entkommen. Schnell haben die Erwachsenen ihre Spur aufgenommen, und was als Romanze begann, wird bald zum Abenteuer. Denn nicht nur die Erwachsenen verfolgen das Pärchen, sondern auch die wildgewordenen Pfadfinder, und zu allem Überfluss nähert sich ein Unwetter der Insel. In einer traumhaft schönen, einsamen Bucht finden Suzy und Sam Zuflucht. Doch sie werden ihre Freiheit nicht allzulange genießen …sie nennen diese Bucht „Moonrise Kingdom“.

So einfach die Story auf den ersten Blick wirkt, so verzwickt wird sie mit jeder weiteren Minute. In ihrer extravaganten Konstruktion erinnert sie an den Stil des Briten Roald Dahl, der – siehe „Der fantastische Mr Fox“ – als idealer Inspirationspartner für Wes Anderson fungieren könnte. Auch der wahre Charme dieser Geschichte entfaltet sich erst beim näheren Hinsehen, so wie das scheinbar aufgeräumte Puppenhaus der Bishops in Wahrheit ein Ort der Katastrophen ist. Vielleicht ein Sinnbild für den amerikanischen Traum oder für die kaputte Familie an sich?

Die charmante Grundidee mit dem originellen Happy End hat durchaus ihre Widerhaken: Sam ist im Camp ein Außenseiter, er ist Waise, sogar seine Pflegeeltern lehnen ihn ab, und auch Suzy hat keine Freundinnen oder Freunde. Die beiden sind anders, und das führt sie zusammen in einer Welt, die das Anderssein nicht duldet. Dabei sind die beiden deutlich reifer als die Erwachsenen, und das betrifft nicht nur ihre Beziehung zueinander, die ebenso unschuldig und würdevoll wie gefühlvoll ist.

Vieles erscheint typisch amerikanisch: das Pfadfindercamp mit Dutzenden von halbwüchsigen Jungs, die – typisch Anderson – bei der ersten Gelegenheit bis an die Zähne bewaffnet einen der Ihren jagen, ihr Anführer, der wackere, aber leicht dämliche Scout Master Ward, der gutmütige Polizeioffizier (in Wahrheit Ms Bishops Lover), die überforderten Wohlstandseltern … das gesamte Personal mit Ausnahme der beiden Helden entpuppt sich als sorgsam geplante Anderson’sche Irritationen, so wie falsch aufgestellte Wegweiser an einer unübersichtlichen Wegkreuzung. Das Drehbuch wimmelt von falschen Fährten und Überraschungen. Aber für sein Spiel mit dem Zuschauer kann sich Wes Anderson zusätzlich auf eine Kameraarbeit verlassen, die Bilder von märchenhaftem Realismus schafft, und auf einen Soundtrack, der zwischen Klassik und Chanson den Zeitgeist findet und mal herrlich wummert, mal romantisch wispert, aber Vorsicht: Überall hat Wes Anderson seine kleinen Fallstricke und Widerhaken versteckt.Wer sich darauf einlässt, diese Doppelbödigkeit inklusive einiger schöner Filmzitate zu entlarven, wird sich bestens amüsieren.

Das gut aufgelegte Starensemble weiß die Doppelbödigkeit der Charaktere perfekt zu bedienen, vor allem Bruce Willis als Polizist, Edward Norton als Oberpfadfinder und Tilda Swinton als Jugendamt (jawohl, so heißt die Rolle!). Sie werfen ihr ganzes komisches Potenzial in den Ring, das sie freudvoll bedienen. Bill Murray darf wieder melancholisch sein, hat aber einige hübsche Ausbrüche und Gags. Die wunderbare Frances McDormand („Fargo“, „Burn after Reading“) spielt Suzys Mutter mit Kraft und Sensibilität. Bob Balaban ist der zauselige Erzähler, der – wieder typisch Anderson – sich mit seiner Rolle nicht zufrieden gibt und gern mal in die Handlung eingreift. Über allem aber strahlen die beiden jungen Helden: Kara Hayward und Jared Gilman. Mit düsterem Charme und nahezu unbewegtem Gesicht zeigt sich Kara Hayward als Gegenentwurf einer dummen Göre: Suzy ist ein selbstbewusstes und dennoch empfindsames Mädchen. Jared Gilman ist als Sam der Vorentwurf eines Nerds – ein Tüftler, Künstler, Träumer voller Ideale. Gemeinsam könnten sie vielleicht die Welt retten, wenn man sie lässt …

Gaby Sikorski

1965, eine kleine Insel vor der Küste Neuenglands. Dort lebt das Mädchen Suzy Bishop mit ihren Eltern und drei kleinen Brüdern. Suzy ist eine Leseratte, die Brüder sind oft mit Musik beschäftigt.

Ganz in der Nähe ist auch der Junge Sam Shakusky bei Pflegeeltern zu Hause, die jedoch bereits signalisiert haben, dass sie auf die Gegenwart von Sam keinen großen Wert mehr legen.

Sam gehört einer hart gedrillten Pfadfindergruppe an, den Khaki Scouts. Bis er eines Tages dieses Camping- und Militärleben satt hat und heimlich die Flucht ergreift. Aber wohin?

Er hat schon ein Ziel, auch wenn niemand davon weiß. Außer Suzy. Denn die beiden haben sich schon ein Jahr lang kleine Briefe geschrieben, die von Banalem bis zu Liebesbekenntnissen reichten.

Plötzlich ist auch Suzy von Zu Haus fort. Sam und sie treffen sich. Sie sind beide nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre, aber nun ungestört, allein, zusammen. Sam hat alles genau geplant, Suzy hat ihre Katze, ein Fernglas und den Plattenspieler ihres Bruders dabei. So lässt sich an einer verborgenen Ecke der Küste, die sie „Moonrise Kingdom“ taufen, gut leben. Sie kochen, vertreiben sich die Zeit. Mit Sex hat das absolut nichts zu tun.

Doch bleiben auch die anderen nicht untätig: die Pfadfinder, die Eltern, der Sheriff, das Jugendamt. Die beiden Ausreißer werden natürlich gefunden. Suzys Vater verbietet seiner Tochter, Sam jemals wiederzusehen. Suzy zur Mutter: „Wir lieben uns. Wir wollen zusammen sein. Was soll daran falsch sein?“

Die Khaki Scouts haben inzwischen längst eingesehen, dass sie sich Sam gegenüber schäbig benommen haben. Seinen zweiten Fluchtversuch – sicherlich zu Suzy – werden sie deshalb tatkräftig unterstützen.

Wes Anderson erzählt dies in einem unbeschwerten, hellen, farbigen, eher märchenhaften Stil und gewann dazu namhafte Schauspieler wie Bruce Willis, Edward Norton, Frances McDormand, Tilda Swinton oder Bill Murray – natürlich Kara Hayward und Jared Gilman nicht zu vergessen, die als Suzy und Sam ihre Sache wunderschön machen.

Der Drill, die elterliche Erziehung, die behördliche Aufsicht, das „ordentliche“ Leben, die Familiengemeinschaft, das alles geht in Ordnung, muss sein. Doch das jugendliche Aufflammen, die Sehnsucht, das Verliebtsein, das Allein-sein-wollen, das Zusammen-sein-wollen ist nun einmal naturgemäß stärker. Und schätzungsweise wird das auch immer so bleiben.

Thomas Engel