Nachbarn

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Auf der Basis eigener Kindheitserinnerungen hat Mano Khalil einen Film über das Aufwachsen in der Assad-Diktatur der 1980er-Jahre gedreht. Nach „Der Imker“ und „Die Schwalbe“ thematisiert der syrisch-kurdische Autor und Regisseur mit „Nachbarn“ abermals seine kulturelle Herkunft – und beweist erneut Gespür für eine lebendige Mileudarstellung.

Webseite: barnsteiner-film.de/nachbarn

Schweiz/Frankreich 2021
Regie & Buch: Mano Khalil
Darsteller: Serhed Khalil, Jalal Altawil, Jay Abdo, Zîrek, Heval Naif, Tuna Dwek, Mazen Al Natour

Laufzeit: 124 Min.
Verleih: barnsteiner-film
Kinostart: 13. Oktober 2022

FILMKRITIK:

Anfang der 1980er-Jahre lebt der sechsjährige Sero in einem Dorf an der syrisch-türkischen Grenze, wo Kurden, Araber und Juden nah beieinander siedeln. Vor dem ersten Schultag des kurdischen Jungen weht ein neuer Wind im Grenzort. Ein regimetreuer Lehrer aus Damaskus will die Dorfkinder „von der Dunkelheit der Unterentwicklung befreien“, sprich: sie auf die Diktatur unter Hafiz al-Assad einschwören. Der unverhohlene Nationalismus führt zu Konflikten, die Seros Kindheit zunehmend überschatten.

Der Filmemacher Mano Khalil lebt als Exil-Syrer in der Schweiz. Sein Drama „Nachbarn“ ist von eigenen Kindheitserlebnissen inspiriert. Dementsprechend ist der Film aus Seros Perspektive erzählt, der die Staatspropaganda als Kind miterlebt. Plötzlich ist die langjährige Freundschaft zwischen Seros Verwandten und der jüdischen Nachbarsfamilie ein Tabu – und Israel nur noch „die Entität, die unser Palästina gestohlen hat“. Wo zuvor kindliche Streiche und die Vorfreude auf einen Fernseher den Alltag des Jungen prägten, herrscht nun Willkür.

Mano Khalil inszeniert den Stoff recht zurückgenommen als Erzählkino. Dialogreiche Episoden aus der Dorfgemeinschaft reißen viele Aspekte an, wobei der zentrale Protagonist Sero als emotionaler Anker und Alter Ego des Regisseurs fungiert. Im Grunde ist er ein gewöhnlicher Junge, dem ein Teil der Kindheit genommen wird. Die Titelschrift verweist mit ihrem Stacheldraht-Layout auf den nahe gelegenen Grenzzaun, der das Dorfleben entscheidend prägt. Rund um die Einweihung der Stromleitungen, eine verbotene Liebe oder Konfrontationen mit den Grenzsoldaten entsteht eine eingängige Milieuschilderung.

Mit ironischen Zuspitzungen und dem trotz allem lebensbejahenden Ton ähnelt „Nachbarn“ dem 2015 oscarnominierten Drama „Timbuktu“. Nicht nur in der Baracke, die als Klassenraum dient, geht es oft absurd zu. Der Lehrer schürt fortwährend antijüdische Ressentiments und gestattet im Unterricht ausnahmslos Arabisch, obwohl einige der Kinder nur Kurdisch sprechen. Auch Sero versteht weder den Erzieher noch die Formeln aus dem neu eingeführten Fahnenappell. Kein Wunder, dass seine Augen im Unterricht auf Halbmast hängen.

Die Stimmung kippt mitunter schlagartig. So ist es amüsant, wenn der Regierungsbeamte voller Stolz eine Palme als Symbol der arabischen Nation ankarren lässt, obgleich der Boden dafür ungeeignet ist. In einer Parallelszene spielen die Kinder unterdessen mit einer Landmine – und schon regiert wieder der Schrecken.

 

Christian Horn