Nachtzug nach Lissabon

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Die Sehnsucht nach dem Leben des Anderen: Bille Augusts Verfilmung des Schweizer Erfolgsromans von Pascal Mercier überzeugt als beeindruckend besetztes Ensemble-Stück vor der malerischen Kulisse Lissabons. Jeremy Irons spielt einen älteren Mann, der zum ersten Mal in seinem Leben aus den gewohnten Konventionen ausbricht und in die Vergangenheit des faschistischen Portugals der 70er-Jahre eintaucht. Ein atmosphärischer historischer Thriller – solides europäisches Kino.

Webseite: www.nachtzug-nach-lissabon.de

Schweiz/Portugal 2013
Regie: Bille August
Buch: Ulrich Herrmann und Gret Latter (basierend auf der Romanvorlage von Pascal Mercier)
Darsteller: Jeremy Irons, Martina Gedeck, Jack Huston, August Diehl, Mélanie Laurent, Christopher Lee, Burghart Klaußner
Länge: 93 Minuten
Verleih: Concorde
Kinostart: 7.3.2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ein grauhaariger Mann mit tiefen Furchen im Gesicht sitzt gebeugt über seinen kleinen Wohnzimmertisch. Mit müden Augen grübelt er über die Schachfiguren, die vor ihm aufgebaut sind. Um ihn herum thronen hunderte Bücher in ächzenden Regalen, die jeden Moment unter der Last zusammenbrechen könnten. Die Küche ist so karg ausgestattet, wie es nur bei alleinstehenden Männern vorkommt. Für den Morgentee muss der gebrauchte Beutel vom Vortag reichen, den der Mann aus dem Mülleimer fischt. Draußen regnet es, die Stadt Bern zeigt sich im grausten Grau. Regisseur Bille August macht seinem Publikum eindrücklich klar: Dieser Mann sieht zwar einsam aus, aber er hat seine Bücher. Aber kennt er auch das echte Leben? Kurz darauf, auf dem Weg zur Arbeit, rettet der Mann eine junge Frau, die von einer Brücke springen will. Sie lässt ihm das Buch eines portugiesischen Autoren zurück und reist überstürzt nach Lissabon. Das Abenteuer beginnt.

Ein alter Mann des aufgeräumten Schweizer Bürgertums und die plötzliche Sehnsucht nach einem Leben voller Gefahren und Abenteuer: Die Romanvorlage von Pascal Mercier verkaufte sich alleine im deutschsprachigen Raum rund zwei Millionen Mal. Die Verfilmung mit einem umwitterten und wahnsinnig erschöpft aussehenden Jeremy Irons nimmt im Vergleich zum gemächlich dahinplätschernden und wohltemperierten Ton des Buchs rasante Fahrt auf. Bille August inszeniert die Geschichte des Schweizer Lehrers Raimund Gregorius, der sich in Portugal auf die Spuren der 70er-Jahre-Philosophen und Revolutionskämpfers Amadeo de Prado (Marc Huston, der einäugige Leibwächter aus der Scorsese-Gangster-TV-Serie „Boardwalk Empire“) macht, als historischen Politthriller mit formidabel ausgeschmückter Besetzung ins kleinste Detail.

Bruno Ganz, Martina Gedeck, Charlotte Rampling, Mélanie Laurent, August Diehl und Burghart Klaußner sind alles Helden des europäischen Kinos, die in diesem atmosphärischen Ensemblefilm in Nebenrollen glänzen. Sogar der mittlerweile 90-jährige Christopher Lee spielt hier einen kleinen Part als katholischer Priester, der unter der faschistischen Diktatur Portugals als Neutrum zwischen Revoluzzern und den Schergen des Salazar-Regimes dient. Wichtiger und eindrücklicher ist allerdings Jeremy Irons, der hier als belesener Bildungsbürger und Lehrer glänzt, der zum ersten Mal aus seiner Alltagsroutine ausbricht und Abenteuerluft wittert. Mittels Rückblenden tastet sich der Film immer weiter an seine eigentliche Hauptfigur Amadeo de Prado heran, der als Arzt und Untergrundkämpfer in Lissabons Linkenszene für Unruhe sorgt, weil er eines Abends dem schwerverletzten Polizeichef mittels Adrenalinspritze das Leben rettet – ein Affront für viele seiner politisierten Freunde. Gekonnt verlässt hier der Film das Drama-Genre und wird zum atmosphärischen und historischen Thriller vor imposanter Kulisse.

Ohnehin Lissabon: Die Kamera von Filip Zumbrunn fängt die Hafenstadt am Atlantik als bonbonfarbene Postkartenschönheit ein. Unter den vielen namhaften Schauspielern, die hier im Minutentakt das Publikum überraschen, ist die Stadt vielleicht der schönste Nebendarsteller. „Nachtzug nach Lissabon“ – ein solides Stück europäisches Kino vor großartiger Kulisse.

David Siems

Bern. Der Lateinprofessor Raimund Gregorius sieht auf einer Brücke zufällig, wie sich eine junge Frau in die Fluten stürzen will. Er kann sie retten, will ihr ihren Mantel zurückgeben, doch sie ist verschwunden. In einem Buch, das er aus der Manteltasche holt, findet er einen Fahrschein nach Lissabon. Kurzerhand fährt er der Frau in die portugiesische Hauptstadt nach, trifft sie allerdings nicht.

Auf der Fahrt liest er das poetisch und philosophisch angereicherte Buch und will in Portugal den Autor und Arzt Amadeu de Prado unbedingt sprechen. Den findet er zwar nicht mehr (1974 verstorben) – dafür aber stößt er auf dramatische historische Begebenheiten aus der Zeit des Widerstandes gegen den Diktator Salazar in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Amadeu verliebt sich in Estefania, die Gefährtin seines besten Freundes Jorge, und so werden die Kämpfe der Widerständler, ihre geheimen als Unterricht für Analphabeten getarnten Treffen, die Folterszene mit Joao am Klavier, die Rettung des von der Menge beinahe gelynchten Feindes Mendez und andere fesselnde Situationen wie etwa zuvor Amadeu’s aufmüpfige Schulabschlussrede an die Adresse seines Vaters, eines diktaturtreuen Richters, erschwert durch die Eifersucht und die Trennung der Freunde.

Auf zwei Zeitebenen spielt sich das ab: jener der Jetztzeit mit Raimund Gregorius’ Reise nach Lissabon, und jener, als die noch jungen Amadeu, Estefania, Joao und Jorge ihre ganze Kraft der Auflehnung gegen Salazar widmeten.

Dramaturgisch ist die Verknüpfung der beiden Zeitebenen im Sinne eines Vorankommens der Handlung gut gelungen. Sowohl historisch als auch human, sowohl philosophisch als auch poetisch ist aus dem zugrunde liegenden Roman von Pascal Mercier und auch aus dem Film einiges herauszuholen.

Manche sprechen wegen der von überall hergeholten Finanzierung und Darsteller von Europudding. Das ist nichts als zynisch. Unnötig sowieso. Und auch falsch. Zugegeben, manche Rollen sind etwas seicht ausgefallen, jene von Martina Gedeck oder Christopher Lee etwa. Andere dagegen sind erstklassig belegt, von Jeremy Irons als Gregorius, von Courtenay als Joao (im Alter) oder August Diehl als Jorge (in jungen Jahren). Bruno Ganz, Charlotte Rampling, Lena Olin und Mélanie Laurent sind ebenfalls dabei.

Menschliches, geschichtliches und auch philosophisches Filmdrama.

Thomas Engel