Nackte Tiere

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Jugend in der Provinz, der Wunsch nach Ausbrechen, nach Freiheit. Ein zeitloses Thema des Kinos, das Melanie Waelde in ihrem Debütfilm so überzeugend und wuchtig variiert, dass sie gleich in die neue Berlinale-Sektion „Encounters“ eingeladen wurde. Zurecht, denn „Nackte Tiere“ überzeugt mit seiner rohen Authentizität, die frei von Klischees und Oberflächlichkeiten erzählt.

Website: www.facebook.com/nacktetiere

Deutschland 2020
Regie & Buch: Melanie Waelde
Darsteller: Marie Tragousti, Michelangelo Fortuzzi, Luna Schaller, Sammy Scheuritzel, Luna Arwen Krüger
Länge: 83 Minuten
Verleih: déjà-vu Film
Kinostart: 17. September 2020

FILMKRITIK:

Sie heißen Katja (Marie Tragousti), Sascha (Sammy Scheuritzel), Benni (Michelangelo Fortuzzi), Laila (Luna Schaller) und Schöller (Luna Arwen Krüger). Fünf junge Erwachsene, die irgendwo in der tristesten deutschen Provinz aufwachsen und nichts lieber wollen als weg. Es ist Winter, was die Tristesse noch grauer, noch unangenehmer macht. Die Scheiben der Überlandbusse beschlagen, der Mief ist geradezu spürbar, die Schule nervt, das Leben findet woanders statt.
Einen Winter haben sie noch zusammen, dann ist die Schule vorbei und das Leben wird ihre Wege trennen.

Gleich in der ersten Szene von Melanie Waeldes Debütfilm „Nackte Tiere“ liegt ihre Hauptfigur Katja auf der Matte und ringt. Beim Sport, beim Judo, aber man merkt, wie viel Wildheit, wie viel Energie, wie viel Aggressivität hinter der unscheinbaren Fassade brodelt. Immer wieder wird Katja im Laufe des Films im Krankenhaus landen, werden ihre Wunden verarztet, die nicht immer nur vom Sport herrühren. Auch das scheinbar harmlose Herumalbern mit ihrem besten Kumpel Sascha endet schon Mal mit blutigen Schrammen, die die Krankenschwester sogar dazu veranlasst, Katja eine Broschüre über häusliche Gewalt mitzugeben.

Ganz falsch liegt sie damit nicht, denn das Quartett lebt größtenteils ohne elterliche Aufsicht, schläft mal hier mal da, wo sich gerade eine Coach oder auch eine Matte in der Sporthalle findet. Ihr Zusammensein ist geprägt von freundschaftlichem Necken, das jedoch schnell kippt und in Rivalität, in Machtgehabe umschlägt. Sich in diesem Wolfsrudel zu behaupten, fällt nicht leicht und kann sensiblere Naturen zu Verzweiflungstaten treiben.

Aus dem eigenen Leben zu schöpfen, wird jungen Filmemachern gern geraten, was sicherlich kein schlechter Rat ist, oft aber zu einer allzu subjektiven Nabelschau wird. Nicht so im Fall der 27jährigen Melanie Waelde, die mit „Nackte Tiere“ ein erstaunliches Regiedebüt vorlegt. Das Drehbuch entstand noch während ihres Studiums an der dffb, gedreht wurde dann aber unabhängig, mit geringsten Mitteln, über den für deutsche Verhältnisse langen Zeitraum von über zwei Monaten.

Nur junge, unverbrauchte Gesichter hat Waelde gecastet, normale, durchschnittliche Gesichter, die weit weg sind vom glatten Look, den das Mainstream-Kino favorisiert. Gefilmt wurde im altmodischen 4:3 Format, dessen fast quadratisches Bildfenster die Enge der Provinz noch drückender erscheinen lässt. Man mag hier an Tiere im Käfig denken, an ungezügelte Wesen, die auszubrechen versuchen, die nicht recht wissen wohin mit ihrer Energie, ihrer Wut.

Doch solche Metaphern drängt Waelde nicht auf, sie deutet nur an, beobachtet wie die Gruppe um Katja sich entwickelt, feiert, liebt, streitet, kämpft. Von seltener Authentizität ist ihr Blick in das Leben junger Erwachsener in der deutschen Provinz, in dem Waelde offenbar auch etliche Erfahrungen ihres eigenen Lebens verarbeitet. Autobiographisch mutet „Nackte Tiere“ jedoch nie an, sondern findet stattdessen das Universelle im Speziellen.

Michael Meyns