Nathalie – Überwindung der Grenzen

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Im Herzen Europas gelegen ist die Schweiz dennoch traditionellerweise neutral und auch nicht Mitglied der europäischen Union. Vielleicht ist es genau dieser unbefangene Blick, der dem Schweizer Lionel Baier in seinem Film „Nathalie“ ermöglicht hat, die Schwächen, aber auch die Stärken der EU so pointiert zu schildern, wie es hier geschieht.

La dérive des continents (au sud)
Schweiz/ Frankreich 2022
Regie: Lionel Baier
Buch: Lionel Baier & Laurent Larivière
Darsteller: Isabelle Carré, Théodore Pellerin, Urisna Lardi, Ivan Georgiev, Tom Villa, Daphne Scoccia

Länge: 89 Minuten
Verleih: W-Film
Kinostart: 30. Mai 2024

FILMKRITIK:

Hoher Besuch steht in Catania, auf Sizilien an: Emmanuel Macron und Angela Merkel haben sich angekündigt, die zu diesem Zeitpunkt – Lionel Baiers Film spielt im Sommer 2020 – führenden Politiker der EU. Auf der Insel im Süden der Festung Europas, will das Duo ein Flüchtlingslager besuchen, und so ein Besuch will minutiös geplant sein. Zu diesem Zweck trifft die vor Ort arbeitende Nathalie (Isabelle Carré) auf Ute (Ursina Lardi), eine Vertreterin der deutschen Regierung und deren französischen Gegenpart Dubat (Tom Villa).

Besonders dieser ist mit der Lage vor Ort alles andere als zufrieden: Viel zu wohnlich wirkt die Flüchtlingsunterkunft, viel zu gepflegt und sauber und wieso sprechen die afrikanischen Flüchtlinge eigentlich so gut Französisch? Was Dubat im Auge hat ist etwas dramatischeres, ist eine gute Geschichte, die zeigt, dass sich durch den Besuch des Präsidenten etwas zum Positiven gewandelt hat.

Von so einer Inszenierung ist Nathalie alles andere als begeistert, doch das ist nicht ihre einzige Sorge. Mit Ute hat sie eine Vergangenheit, die emotional belastet, vor allem aber erfährt sie, dass ihr Sohn Albert (Théodore Pellerin) sich ebenfalls auf der Insel befindet. Den hat Nathalie seit der Scheidung vom Vater nicht mehr gesehen, was Albert veranlasst in seinen Tik-Tok-Clips über seine abwesende Mutter zu lästern, die sich lieber um Flüchtlinge kümmert als den eigenen Sohn. Welches Problem schwerer zu lösen ist: Die EU-Flüchtlingskrise oder das gespannte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist schwer zu sagen.
Nach „Comme des voleurs (à l’est)“ (2006) und „Les grandes ondes (à l’ouest)“ (2013) legt der Schweizer Regisseur Lionel Baier mit „Nathalie – Überwindung der Grenzen“, im Original „La dérive des continents (au sud)“ nun den dritten Teil einer geplanten Tetralogie über Europa vor. Erneut vermischt er politisches mit privatem, spiegelt das große Ganze in persönlichen Konflikten.

Nicht immer funktioniert dabei die Mischung zwischen satirischen Momenten, in denen die Absurditäten und Abgründe der EU-Bürokratie aufgezeigt werden, und melodramatischen, bisweilen auch sentimentalen Szenen, in denen das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn beschrieben wird. Manches wirkt konstruiert und allzu sehr zugespitzt, um einen deutlichen Kontrast zwischen den Sphären anzudeuten.

Doch über weite Strecken erweist sich Baier als pointierter Autor und Regisseur, der es schafft, anzudeuten, wie kompliziert die EU zwar oft funktioniert, dass viele ihrer Mitarbeiterinnen aber ganz ohne Frage an das Glauben, was sie tun. Zynismus jedenfalls ist in „Nathalie – Überwindung der Grenzen“ nichts zu spüren, stattdessen die Hoffnung, dass nicht nur Nathalie ihr schwieriges Verhältnis zum eigenen Nachwuchs wieder kitten kann, sondern auch die EU mit ihrer Flüchtlingspolitik Erfolg haben wird.

Michael Meyns