Oh Boy

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Heutzutage ist alles noch viel schlimmer als früher. Heute weiß nicht mehr nur die Jugend nicht mehr, was sie will. Auch junge Erwachsene um die 30 lassen sich vom Strom des Lebens einfach so treiben und wundern sich, dass sie nirgendwo ankommen. Der Regie-Debütant Jan Ole Gerster setzt diesen moderen Driftern ein wunderbares, zutiefst melancholisches Denkmal. Und inszeniert mit seinen poetischen schwarzweiß-Bildern gleichzeitig einen der schönsten Berlin-Filme der letzten Jahre.

Webseite: www.x-verleih.de

Deutschland 2012
Regie und Buch: Jan Ole Gerster
Darsteller: Tom Schilling, Friederike Kempter, Marc Hosemann, Justus von Dohnányi, Frederick Lau, Michael Gwisdek, Ulrich Noethen
Verleih: X Verleih
Kinostart: 25. Oktober 2012

PRESSESTIMMEN:

Verzaubert mit Lakonie, schlauer Struktur ...und schönen Schwarz-Weiß-Bildern.
STERN

Die einzel­nen Sze­nen sind brillant geschrie­ben, doch die besten Dialoge wä­ren nichts ohne das perfekte Ti­ming der spiel­freu­di­gen Darsteller (u. a. Jus­tus von Doh­nányi, Micha­el Gwis­dek und Ulrich Noethen). Gerade­zu be­ste­chend ist auch die Bild­ge­stal­tung, eine unaufdring­li­che Hom­mage an die frühen Klas­siker der Nouvelle Vague. Die me­lan­cho­li­schen Schwarz-Weiß-Bil­der zeigen ein ganz anderes Ber­lin. Ein kleiner Film und großes Kino.
Cinema

…der Alltag eines Antihelden zwi­schen Sarkasmus, Melancholie und schwarzem Humor, garniert mit lakonischen Dialogen und sub­versivem Witz.
Blickpunkt:Film

FILMKRITIK:

Termine, Termine, den ganzen Tag! Niko (Tom Schilling) flieht frühmorgens aus der Wohnung der Frau, die sich für seine Freundin hält. Dabei hat er lediglich einen Termin mit einem Psychologen, der nach wiederholtem Fahren unter Alkoholeinfluss seine Fahrtüchtigkeit prüfen soll. Selbst den verpennt er fast, und das Gespräch endet in einem Fiasko. Typisch Niko. Er ist Ende Zwanzig, hat sein Jura-Studium schon vor zwei Jahren geschmissen und lässt sich seitdem in Berlin durch den Tag treiben. In seiner Wohnung stapeln sich noch immer volle Umzugskartons, aber Papas monatliche Überweisungen sichern das Überleben. Das heißt: bisher. Denn plötzlich zahlt Papa (Ulrich Noethen), ein reicher Unternehmer, nicht mehr. Der Automat frisst Nikos EC-Karte. So ergibt sich doch ein neuer Termin, mit dem Vater nämlich. Und das ist nur der Auftakt zu lauter unangenehmen, teils bizarren Treffen mit Nachbarn, ehemaligen Mitschülerinnen und Berliner Prolls, die Nikos Tag tatsächlich noch ziemlich stressig werden lassen.

Weiße Titel auf schwarzem Grund, dazu altmodischer Dixieland-Jazz – eine Inspirationsquelle für Jan Ole Gersters Regie-Debüt drängt sich schon auf, bevor das erste Schwarzweiß-Bild zu sehen ist: Woody Allens „Manhattan“. Tatsächlich gelingt Gerster ein in der melancholischen Grundstimmung und visuellen Prägnanz vergleichbar dichtes Großstadt-Porträt. Ein im Ton völlig anders gelagerter Einfluss macht die Stimmungspole deutlich, zwischen denen „Oh Boy“ aufgespannt ist: Oliver Rihs‘ böse-anarchistische Berlin-Ballade „Schwarze Schafe“, bei der Tom Schilling ebenfalls mitwirkte. Denn die Geschichte ist auf der einen Seite traurige Bestandsaufnahme, besteht auf der anderen aber aus lauter knirschend peinlichen Episoden, durch die der am Ende arg ramponierte Protagonist sich zu kämpfen hat. Gerster erspart seinem Helden die Zumutungen des Lebens nicht. So wird aus „Oh Boy“ eben keine larmoyante Etüde über eine verweichlichte, träumerische Generation. Obwohl zu befürchten steht, dass einige Zeitgenossen dem Film genau diesen Vorwurf machen werden.

Wofür sonst soll man auch ein Bürschchen halten, das auf Kosten von Papa lebt, keine Verantwortung übernimmt und nicht weiß, wohin mit seinem Leben? In einer harten Szene konfrontiert der zupackende, erfolgreiche und ungemein unsympathische Vater Niko mit seinem Losertum und demütigt ihn in der Gegenwart seines servilen Assistenten. Der hat sein Studium abgeschlossen und wird trotzdem behandelt wie ein Hausdiener. Niko begehrt auch hier nicht auf, er bleibt passiv. Und bringt doch eine fundamentale Verweigerung zum Ausdruck, widersetzt sich der Einverleibung in eine Produktionsmaschine, bleibt wissentlich Außenseiter und Beobachter. Niko ist sich bewusst, dass man sich dieses Verhalten auch leisten können muss, er weiß um seine privilegierte Lage, obwohl ihm sein Vater den Geldhahn zudreht. So trifft er immer wieder auf die Kriegsvergangenheit Berlins, erst auf einem Filmset, später im Gespräch mit einem alten Mann (Michael Gwisdek) an einer Bar. In dieser bewegenden Szene erzählt der von der Reichskristallnacht, die er als kleiner Junge erlebte. Niko wird klar: Der wahre Luxus ist nicht, Sohn eines reichen Mannes zu sein. Luxus ist es, überhaupt eine Wahl zu haben.

Die trifft Niko dann trotz seiner scheinbaren Unentschiedenheit ganz bewusst. Dass der Regisseur diesen Prozess witzig, sehr warmherzig und immer ernsthaft begleitet, macht seinen Film so wahrhaftig. Daran haben auch die wunderbaren Schauspieler ihren Anteil. Es scheint, als habe sich Tom Schillings bisherige Karriere auf diese Rolle hin zugespitzt, als habe sie förmlich auf ihn gewartet. Und Michael Gwisdeks kurzer Auftritt ist in seiner Intensität und großstädtischen Melancholie zum Niederknien. Ein weiterer Hauptdarsteller ist natürlich die Stadt selbst. Berlin wird in den gleichzeitig zarten und sehr handfesten Kadragen zu einem Ort für das Recht auf Ratlosigkeit, abseits der gedankenlosen Geschäftigkeit von Mitte. Ganz im Sinne eine Hymne auf die sanfte Verweigerung der Band Tocotronic, die ein weiteres Vorbild für „Oh Boy“ sein könnte: „Und wenn Du kurz davor bist, kurz vor dem Fall, und wenn Du denkst, "Fuck it all!" und wenn Du nicht weißt, wie soll es weitergehen: Kapitulation“.

Oliver Kaever

Niko Fischer ist ein junger Mann von heute. Mitte 20, in Berlin wohnhaft, Jura-Studium abgebrochen. Er hat mit seiner bisherigen Freundin Schluss gemacht, lebt in den Tag hinein, überlegt sich, ob er es ist, der merkwürdig wirkt, oder ob es die anderen sind.

Umzug. Die neue Wohnung richtet er nicht ein. Er flaniert, lässt alles auf sich zukommen. Mit seinem Freund Matze erlebt er im Filmstudio eine berührende, darstellerisch bestens gemeisterte Kriegsgeschichte; seine frühere, ihn begehrende Schulkameradin Julika weist er in ungeschickter Weise von sich, was zu einem hysterischen Anfall führt; seinem Vater hat er etwas vorgemacht, und deshalb gibt es nun kein Geld mehr – und auch keine Versöhnung; beim Psychologen, bei dem es um den Verlust des Führerscheins geht, hat er wenig Glück; ein deprimierter Nachbar weint ihm etwas vor; ein alter Barbesucher erzählt ihm in einer erschütternden Szene von der Verfolgung der Juden; in ganz Berlin findet er keinen einfachen, „normalen“ Kaffee.

Es ist ein zusammen gewürfeltes Leben, jedoch nicht untypisch für die heutige Zeit.

Und es ist ein zusammen gewürfelter Film, jedoch sehr gut gelungen.

Wunderbare Schwarzweißbilder schmücken ihn – Berlin wie es leibt und lebt, bei Tag und bei Nacht, mit Menschen voll und völlig leer.

Tom Schilling als Niko Fischer ist ein Glücksfall. Hier zeigt er eine außerordentliche Leistung.

Doch der Regisseur beließ es keineswegs dabei. Er besetzte seinen Film, den man fast einen Episodenfilm nennen könnte, beispielsweise mit Friedrike Kempter als Julika und Mark Hosemann als Matze. Auffallend gut wieder einmal Ulrich Noethen als Nikos Vater. In einer der schönsten Szenen Michael Gwisdek als alter Barbesucher.

Eine in vielem schlüssige Lebenszeitschilderung eines jungen Mannes im heutigen Berlin. Unterhaltend obendrein.

Thomas Engel