2015 verliert die Tunesiern Olfa Hamrouni zwei ihrer vier Töchter an den IS. Die beiden jungen Frauen, damals Teenager, kämpfen fortan in Libyen an der Seite der Terrormiliz. In „Olfas Töchter“ wagt Regisseurin Kaouther Ben Hania einen ungewöhnlichen Ansatz: Sie kontaktiert Schauspielerinnen, die die verlorenen Töchter „ersetzen“. Die experimentelle Dokumentation vermengt Fakten und Fiktion rund um die ergreifende Familiengeschichte mit allgemeinen, universellen Fragen. Ein sensibler und gleichzeitig fesselnder Film, unkonventionell und voller Überraschungen.
Frankreich, Tunesien, Deutschland, Saudi-Arabien 2023
Regie: Kaouther Ben Hania
Buch: Kaouther Ben Hania
Darsteller: Hend Sabri, Olfa Hamrouni, Eya Chikahoui
Länge: 107 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 18.01.24
FILMKRITIK:
Olfa Hamrouni, Mutter von vier Töchtern aus Tunesien, lebt nur noch mit ihren beiden jüngsten Töchtern zusammen, Eya und Tayssir. Ihre zwei ältesten Töchter, Ghofrane und Rahma, flohen vor acht Jahren aus dem Elternhaus in Richtung Libyen. Dort radikalisierten sie sich und schlossen sich im Nachbarstaat der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) an. Im April 2016 machte Olfa die Radikalisierung ihrer beiden jugendlichen Töchter öffentlich. Das Medienecho war groß. Mittlerweile wurden Ghofrane und Rahma von libyschen Behörden zu langen Haftstrafen verurteilt.
In „Olfas Töchter“ wagt Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania eine ungewöhnliche Versuchsanordnung: Sie bringt Olfa, Eya und Tayssir mit den Schauspielerinnen Ichraq Matar und Nour Karoui zusammen, die in nachgestellten Szenen die Rollen von Ghofrane und Rahma übernehmen. Und wenn Olfa von ihren Gefühlen übermannt wird und der Schmerz über die Verluste zu schwer wiegt, wird sie von der tunesischen Schauspielerin Hend Sabri verkörpert.
Gleich zu Beginn stellt Ben Hania Olfa und ihren Töchtern die Darstellerinnen vor, mit deren Hilfe die Vergangenheit zum Leben erweckt wird. Und die diese tragische Familiengeschichte neu interpretieren. Dabei ergeben sich im Laufe der Dreharbeiten und beim Nachstellen immer wieder ergreifende Momente, in denen Eya, Tayssir und Olfa – verständlicherweise – ihre Tränen nicht mehr zurückhalten können. Zu groß ist die Trauer über den Weg, den die beiden ältesten Töchter bzw. Schwestern eingeschlagen haben.
Viele dieser sehr persönlichen Sequenzen fängt die Filmemacherin mit erstaunlicher Sensibilität und Intimität ein. Zum Beispiel die vielen Spielszenen, die Olfa und ihre Töchter zusammen mit den Darstellerinnen oft aus der Erinnerung heraus und spontan kreieren. Und die einen eigenen Sog, eine eigene Dynamik entwickeln. Wenn Olfa Ichraq Matar und Nour Karoui beim Interagieren zusieht, dann sieht sie vor ihrem geistigen Auge natürlich Ghofrane und Rahma. Zumal Maske und Make-up dafür sorgen, dass die Darstellerinnen ihren Figuren, die sie spielen, ziemlich ähnlichsehen. Schwer vorstellbar, wie schmerzhaft diese Augenblicke für eine Mutter sein muss, die ihre Töchter für viele Jahre verloren hat.
In kurzen, zwischengeschnittenen Interviewpassagen geben Olfa, Eya und Tayssir Einblicke in den Alltag als muslimische Großfamilie. Und wie das Leben war, bevor sich Ghofrane und Rahma radikalisierten. Zudem berichtet Olfa über ihre Erfahrungen in ihrer unglücklichen Ehe (sie ließ sich 2011 scheiden) und wie sie, wenig später und trotz aller Widerstände, eine neue Liebe fand. All diese Äußerungen lassen das Bild einer facettenreichen, starken Persönlichkeit entstehen, die ihrer Regisseurin, das ist in den gemeinsamen Momenten vor der Kamera deutlich zu spüren, blind vertraut.
Neben der Familiengeschichte und den Entwicklungen, die zur Hinwendung der Töchter zu radikal-islamischem Gedankengut führten, spricht „Olfas Töchter“ weitere essenzielle, diskussionswürdige Themen an. Allgemeinere Themen, die zwar auch auf Olfa und ihre Töchter anwendbar sind, aber sich gleichsam auf viele muslimische Gesellschaften und große Teile der islamischen Welt übertragen lassen. Es geht um die patriarchale Kultur, Vollverschleierung, Fragen der Sexualität und das Frausein in einer Gesellschaft, in der dem Mann die bevorzugte Stellung zukommt.
Björn Schneider