Paris – Kein Tag ohne dich

Zum Vergrößern klicken

Mit ihrem außergewöhnlich vielschichtigen dokumentarischen Filmessay zeigt Regisseurin Ulrike Schaz beispielhaft, wie sich einmal erfasste Daten unkontrolliert verselbstständigen können. Ihr Schicksal, in der Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, ist nicht nur persönliche Erinnerungsarbeit, um ihre traumatischen Erlebnisse ansatzweise zu verarbeiten. Gleichzeitig gelingt der ehemaligen Kunststudentin und versierten Filmemacherin damit eine äußerst sehenswerte einfühlsame luzide Geschichtsstunde.

Website https://jip-film.de/paris-kein-tag-ohne-dich

Dokumentarfilm
Deutschland 2020
Regie: Ulrike Schaz
Länge: 104 Minuten
Verleih: JIP Film
Kinostart: 4.11.2021

FILMKRITIK:

1975. Paris. „Ich war verliebt – in die Stadt und in Jean Marie. Er fragte mich: „Kommst Du mit zu einer Party?“ Ich sagte ja. Danach war für mich nichts mehr wie zuvor“, erzählt Regisseurin Ulrike Schaz aus dem Off. Grund: Auf der Party, zu der sie wollten, hatte ein Terrorist drei Menschen erschossen. Zwei von ihnen waren Beamte des französischen Geheimdienstes. Ihr Freund und sie werden verhaftet, dem Geheimdienst übergeben und verschwinden sechs Tage von der Außenwelt.

Ein absurder Verlauf einer Geschichte, die auf den Nebenschauplätzen der Terrorbekämpfung und Datenspeicherung spielt. Weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war, galt die junge Frau nach dieser verhängnisvollen Nacht plötzlich als Komplizin von Terrorist Carlos Sanchez. Sechs Tage lang wird sie unter unmenschlichen Bedingungen im Keller des ehemaligen in Paris festgehalten und misshandelt. Nach unzähligen Verhören frei gelassen. Danach wird sie aus Frankreich ausgewiesen.

Doch damit war die Angelegenheit nicht beendet. Es gibt keine Beweise für ihre Schuld. Aber noch Jahre später taucht der Name Ulrike Schaz auf diversen Verbrecherlisten auf. Ein unbeschwertes Reisen ist für sie fast nicht mehr möglich. Ihr Name lässt sich nicht mehr reinwaschen. In ihrem Dokumentarfilm begegnet sie Jean Marie fast 40 Jahre später wieder. Sie treffen sich zunächst in einem Pariser Cafe am Boulevard Saint-Germain.

Noch immer hat Jean Marie ein Automatenfoto von damals in seinem Portemaine. In ihrem Hamburger Kunstatelier erzählen sie danach gemeinsam ihre Geschichte, sortieren ihre sehnsüchtigen Liebesbriefe. Denn es ist auch die Geschichte zweier Leben, die auseinandergerissen wurden und nie wieder richtig zusammenfanden. Ereignisse, die sich zu einem Albtraum entwickelten, mit lebenslangen, teils traumatischen Konsequenzen.

Noch achtzehn Jahre später, während einer Recherchereise für einen Dokumentarfilm, zeigt sie auf dem Flughafen in New York ihren Pass. Der Beamte erstarrt nach der Kontrolle. Das FBI behauptet, sie sei Carlos Freundin. In Fußfesseln wird sie mit ihrer Kollegin über den Flughafen geführt, die Nacht über in einem Abschiebeknast festgehalten und danach aus den USA ausgewiesen.

Ihre Inventur, so nennt die Filmemacherin ihren künstlerische aufbereiteten, poetischen Filmessay, beginnt bei ihrer Familie im Schwäbischen. In ihrer Kindheit gehört die Region nach dem 2. Weltkrieg zur französischen Besatzungszone. „Meine Mutter sagte immer Was vorbei ist, ist vorbei. In Wirklichkeit war nichts vorbei und über allem lag ein Schweigen“, erinnert sich die Regisseurin. Die Verdrängung der Verbrechen aus der NS-Zeit war allgegenwärtig.

„Ich wollte Französin sein wie Juliette Greco, Existenzialistin “, verrät Ulrike Schaz im Film. Sie fühlte sich leicht in Paris, der Stadt der Liebe, die ihr Schicksal wurde. Denn bald darauf brannten dort Barrikaden Die Studenten gingen gemeinsam mit den Arbeitern auf die Straße. Zurück in Deutschland erlebt sie die Anfänge der Frauenbewegung, gründet zusammen mit anderen Frauen das erste autonome Frauenhaus.

Wie ein roter Faden zieht sich die Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre durch ihren Filmessay. Als Künstlerin findet sie immer wieder stimmige Metaphern. Dramaturgisch eingängig aufeinander aufgebaut fasziniert die exzellente Montage ihres Bild- und Tonmaterials. Gleichzeitig gelingt der versierten Filmemacherin damit einfühlsam eine äußerst sehenswerte luzide Geschichtsstunde.

Luitgard Koch