Flirrende Bilder bestimmen die Welt von „Patagonien“, dem Debütfilm des italienischen Regisseurs Simone Bozzelli, der ein deutliches Faible für Menschen hat, die am Rand der Gesellschaft leben, bewusst und unbewusst. Einer davon ist Yuri, ein junger Mann, der nach Freiheit sucht, aber schnell begreift, wie schwer dieser Begriff zu definieren ist.
Italien 2023
Regie: Simone Bozzelli
Buch: Tommaso Favagrossa & Simone Bozzelli
Darsteller: Andrea Fuorto, Augusto Mario Russi, Elettra Dallimore Mallaby, Alexander Benigni, Lina Bartolozzi, Marina Catia Lamperini
Länge: 110 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 22. August 2024
FILMKRITIK:
Im Herzen Italiens, in den Abruzzen, lebt Yuri (Andrea Fuorto), ein 20 Jahre junger Mann, der im Herzen und im Kopf noch ein Kind ist. Bei seinen Tanten lebt er, eine badet in noch in der Wanne, denn Yuri ist ein Tor, naiv, etwas zurückgeblieben, aber von reiner Seele, fast wie eine Figur aus einem Märchen.
Eines Tages taucht Agostino (Augusto Mario Russi) auf, ein vielleicht 30jähriger Mann, der mit seinem Wohnwagen durchs Land fährt und sich als Clown auf Kindergeburtstagen das wenige Geld verdient, das er zum Leben braucht. Obwohl ihn Ago, wie er ihn nennt, vor den Kinder lächerlich macht, schließt sich Yuri ihm an, verlässt zum ersten Mal sein zu Hause und begibt sich auf ein Abenteuer.
Bald erreicht das Duo eine abgelegene, von der prallen Sommersonne ausgebleichten Landschaft, in der sich gleichgesinnte Aussteiger versammelt haben. Eine Art Burning Man Festival mitten in Italien, ein Camp von Freigeistern oder solchen, die sich dafür halten: Späthippies, Raver, Junkies. Eine Welt, in die der genderfluide Ago perfekt passt, in der Yuri jedoch erst recht wie ein Fremdkörper wirkt.
Eine interessante Versuchsanordnung etabliert Simone Bozzelli in seinem Debütfilm „Patagonien“ in dem die südamerikanische Landschaft als Metapher für ein Versprechen von Freiheit dient, aber auch als Symbol der Illusionen, der vor allem Ago nachhängt.
Zwischen Zuckerbrot und Peitsche bewegt sich die oft sado-masochistisch wirkende Beziehung zwischen Yuri und Ago, zwischen Anziehung, Nähe, vielleicht auch Liebe, und Machtdenken, Manipulation und Sadismus.
Durch den naiven Blick Yuris blickt der Film und mit ihm der Zuschauer auf die Welt der Aussteiger, auf junge und nicht mehr ganz so junge Menschen, die sich Abseits der gesellschaftlichen Konventionen bewegen und sich für frei halten. Ob sie das wirklich sind oder sich doch nur in anderen Formen der Konventionen und Abhängigkeit bewegen ist eine der Fragen, die lose im Raum stehen.
Mit nicht unbedingt subtilen visuellen Metaphern deutet Bozelli die Abhängigkeiten an, immer wieder sind Zäune und Käfige zu sehen, werden Tiere – ein Hund, eine Ratte – an Leinen geführt, die sie vielleicht gar nicht brauchen, denn sie würden ja ohnehin bei ihrem Herrchen bleiben. So wie auch Yuri bei Ago? In der Schwebe bleibt das Verhältnis der beiden Männer, auch wenn Yuri im Laufe des Films begreift, dass die Vorstellung von Freiheit, nach der Ago lebt, eine sehr spezielle ist. Auf eine klare Auflösung verzichtet Bozzelli, er bevorzugt das ambivalente, flirrende, irritierende. Ein ambitionierter Ansatz, der dank der Bilder und zwei überzeugenden Hauptdarstellern aufgeht.
Michael Meyns