Picco

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Viel Mut zum Risiko kann man dem deutschen Nachwuchsfilm derzeit gewiss kaum nachsagen. Förderweichspüler samt vorauseilender Fernseh-Gefälligkeit dominieren vielfach den harmlosen Story-Kleinkram, der auf der Leinwand regelmäßig die verdiente Publikumsquittung bekommt. „Wir können auch anders“ sagte sich der Münchner Hochschulabsolvent Philip Koch. Er riskierte ein rigoroses Thema: Jugendknast, mit aller Gewalt und Brutalität. Er verzichtete auf die üblichen Fernsehgelder und konnte so seinem Thema konsequent treu bleiben. Der Mut wurde belohnt: Erst beim Max-Ophüls-Festival mit dem Preis des Saarländischen Ministerpräsidenten. Dann Cannes - mit dem Erstling auf dem wichtigsten Festival der Welt ist allemal kein schlechter Coup. Schließlich noch der Bernhard Wicki-Friedenspreis – und das wird kaum die letzte Auszeichnung für das 27jährige Regie-Talent bleiben, dem der mit Abstand packendste deutsche Film des Jahres gelang. „Das ist Auschwitz“ machte in Cannes ein wütender Zuschauer seinem Ärger lautstark Luft, gut 50 Leute verließen den Saal. Ähnliche Szenen zuvor in Saarbrücken. Doch auch Tränen gab es, viel Beifall sowieso. „Picco“ geht an die Grenzen, er geht an die Nieren. Die sorgfältig recherchierte Gewaltstudie ist extrem – jedoch nie voyeuristisch. Ein Lehrstück, das Pflichtprogramm für alle Schulen sein sollte. Da das brisante Thema die Talkshows rauf und runter beschäftigten wird, ist mit reichlich Resonanz beim Kinoeinsatz zu rechnen.

Webseite: www.picco-film.de

Deutschland 2010
Buch und Regie: Philip Koch
Bildgestaltung: Markus Eckert, bvk
Darsteller: Constantin von Jascheroff, Joel Basman, Frederick Lau, Jule Gartzke, Leonie Benesch, Enno Trebs, Willi Gerk.
Laufzeit: 104 Minuten
Verleih: Movienet/24Bilder
Kinostart: 3.2.2011
 

PRESSESTIMMEN:

...Kino, das weh tut: Philip Kochs großartiges Spielfilmdebüt berichtet aus der Hölle des deutschen Jugendknasts. ...ein intensives, ungeheuer packendes Stück Kraftkino, vor dem man sich nur verbeugen kann.
KulturSPIEGEL

FILMKRITIK:

„In this house you have one friend – yourself” – mit diesem Graffiti in einer Gefängniszelle beginnt das beklemmende Kammerspiel vom Leben und Leiden in einem Jugend-Gefängnis, das auf wahren Begebenheiten, dem Foltermord in der JVA Siegburg 2006, basiert. Demütigung, Gewalt und Unterdrückung gehören hier zum Alltag. Die Aufseher sind Wegseher. Kevin (eindrucksvoll: der Berliner Jungschauspieler Constantin von Jascheroff) landet als Knast-Novize, als Picco, ganz unten in der Hackordnung einer Vierer-Zelle. Anfangs leistet der sensible Typ noch leisen Widerstand gegen die Rempeleien, will schwächeren Kumpels helfen. Doch mehr und mehr mutiert der Achtzehjährige selbst zum Mitläufer, wird vom Opfer zum Täter. Den Misshandlungen entkommt hier nur, wer sich die Schwächeren als Zielscheibe eigener Aggression aussucht. Was mit harmloser Anmache beginnt, wächst sich jäh zur Psychofolter aus. Die körperliche Gewalt beginnt mit Schlägen, mit brutalen Vergewaltigungen und endet schließlich, nach 20 minütiger Folter, mit dem erzwungenen Selbstmord des Schwächsten der Zelle.

Die rigorose Darstellung der Brutalität geht an die Nieren, verkommt jedoch nie zum voyeuristischen Selbstzweck. Stets schimmert durch, dass hinter der großmäuligen Macho-Fassade mit homophoben Sprüchen in Wirklichkeit ganz erbärmlich arme Würstchen ohne jedes Selbstbewusstsein stecken. Das Szenario ist nicht erfunden, Sprache und Verhalten der jugendlichen Knastinsassen sind brutalstmöglich authentisch. Autor und Regisseur Koch, der eineinhalb Jahr am Drehbuch schrieb, hat ausgiebig recherchiert und verlässt sich insbesondere auf das Fachwissen des Jugendexperten Klaus Jünschke, der seine Knast-Arbeit in dem Buch „Pop Shop – Gespräche mit Jugendlichen in Haft“ veröffentlichte.

Mit langen Kameraeinstellungen und in kalten Farben lässt der Film den Zuschauer die klaustrophobische Atmosphäre spüren, der die Figuren in ihrer 16 Quadratmeter kleinen Zelle gnadenlos ausgesetzt sind. Seine Jungs hat Jungfilmer Koch dabei höchst eindrucksvoll im Griff und schickt seine Akteure mit maximalem Minimalismus in die Hölle. Frederick Lau (Deutscher Filmpreis für „Die Welle“) gibt das Sadisten-Schwein dabei so überzeugend, dass der Schauspieler seiner eigenen Mutter den Besuch des Films verboten hat. Am Ende stellt sich schließlich auch für den Zuschauer die Frage: Wie würde man sich in solch einer Situation selbst verhalten? Wo liegt das Ende von Zivilcourage? Wie schnell blättert der Lack von Menschenwürde ab? „Die einzigen Täter in ‚Picco’ sind wir. Das ist es, was uns so schmerzt“ kommentiert Koch die heftigen Reaktionen auf sein Drama.

Wie auf den Festivals dürfte „Picco“ das Publikum auch im Kinoalltag polarisierten. Den Namen Philip Koch muss man sich merken – aus diesem Talent könnte noch ein Haneke werden. An seinem nächsten Stoff, wiederum ein brisantes Psychodrama, hat ein deutscher Erfolgsproduzent bereits sein Interesse signalisiert. 

Dieter Oßwald

Ein Jugendgefängnis. Erziehungsvollzugsanstalt heißt das, damit es sich besser anhört.

Marc, Kevin, Tommy und Andy müssen sich eine Zelle teilen. Natürlich geht es in solchen Gemeinschaft meistens darum, wer das Sagen hat, wer die Oberhand behält. Tommy scheint der Schwächste zu sein, Kevin der Vernünftigste.

Doch es sieht nur so aus. Dieser Kevin wandelt sich. Die düstere, durch Drogen noch verstärkte Gewalt- und Einschüchterungsstimmung, die beim Einschluss ebenso herrscht wie beim täglichen Hofgang, bei der Essensausgabe ebenso wie beim Kirchgang, bei der Arbeit ebenso wie beim Gespräch mit der Psychologin, bei Tag ebenso wie bei Nacht, sie haben seine Zurückhaltung ins Gegenteil verkehrt. Er gehört jetzt nicht zu den Opfern, sondern zu den „Tätern“.

Vor nicht langer Zeit geschah in Deutschland das Unfassbare. In einer Nacht wurde einer von mehreren jugendlichen Insassen einer Gefängniszelle von seinen Mitgefangenen so lange gefoltert und halb betäubt, bis er sich schließlich offenbar selbst das Leben nahm.

Diesem schrecklichen Geschehen ist alles nachgestaltet – natürlich ohne Nennung der tatsächlichen Namen und genauen Vorgänge. In dem konsequent, unerbittlich und geradezu grausam inszenierten Film – der übrigens, obwohl Erstling, technisch perfekt gemacht ist – kommt die furchtbare Tat am Schluss ebenso zum Ausdruck wie die angedeuteten, durch das Gefangensein gegebenen – realen? – Zustände.

Ob zwischen derartigem Gefangengehaltenwerden und der Gewalt ein Kausalzusammenhang besteht, ist die Frage. „Picco“ beantwortet sie mit einem klaren ja. Insofern wird äußerst gesellschaftskritisch vorgegangen. Allerdings auf einseitige Weise. Für die Gemeinschaft brauchbare Lösungsvorschläge werden nicht zur Diskussion gestellt.

Immerhin ist der Film sowohl thematisch als auch formal sehenswert. Und erstaunlich, wie die jungen Schauspieler Frederick Lau (Marc), Constantin von Jascheroff (Kevin), Joel Basmann (Tommy) und Martin Kiefer (Andy) ihre Parts routiniert durchziehen.

Thomas Engel