Poll

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„Poll“, der neue Film von Chris Kraus („Vier Minuten“), beleuchtet wie schon Michael Hanekes „Das weiße Band“ einen spannenden Ausschnitt europäischer Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Anwesen einer deutschen Aristokratenfamilie an der baltischen Ostseeküste wird darin zum Schauplatz tiefgreifender Veränderungen. Bildgewaltig und erstklassig besetzt erzählt Kraus eine düstere Familienchronik, in der sich Elemente eines morbiden Märchens mit denen eines Vorkriegsdramas vermischen.

Webseite: www.poll-derfilm.de

D 2010
Regie & Drehbuch: Chris Kraus
Produktion: Alexandra Kordes, Meike Kordes
Kamera: Daniela Knapp
Musik: Annette Focks
Darsteller: Paula Beer, Edgar Selge, Tambert Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller
Länge: 129 Minuten
Kinostart: 3.2.2011
Verleih: Piffl Medien
 

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Mit ihren 14 Jahren verlässt die heranwachsende Oda von Siering (Paula Beer) im Sommer des Jahres 1914 Berlin Richtung Baltikum. Dort, an der estnischen Ostseeküste, lebt ihr Vater Eddo (Edgar Selge) mit seinen anderen Kindern und Odas Tante Milla (Jeanette Hain) auf dem seltsam verfallenen Adelsgut Poll. In der entlegenen Provinz des Zarenreiches treffen Deutsche, Russen und Balten aufeinander. Ihre Begegnungen sind meist von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen geprägt. Wie ein dunkler Schatten liegt über allem die Vorahnung fundamentaler Umwälzungen, die das Leben der Familie von Siering und ihrer Nachbarn für immer verändern soll.

In dieser angespannten und bisweilen bedrohlichen Lage sucht die junge Oda eine Möglichkeit zur Flucht. Der Zufall kommt ihr dabei zur Hilfe. Auf dem Anwesen begegnet das Mädchen einem estnischen Widerstandskämpfer (Tambert Tuisk), der sich dort vor den Russen versteckt hält und dem sie zunächst bei der Behandlung einer Verletzung hilft. Zwischen dem jungen Mann, der sich Oda unter dem Namen „Schnaps“ vorstellt, und dem Mädchen entwickelt sich alsbald ein besonderes Vertrauensverhältnis. Ihr mit Strenge über Poll herrschender Vater ahnt indes nicht, mit wem und wo seine Tochter unzählige Stunden verbringt. Ihn beschäftigen vielmehr seine vermeintlich wissenschaftlichen Forschungen rund um die Anatomie des menschlichen Körpers. In seinem abgeschirmten, mit allerlei gruseligen Präparaten ausstaffierten Laboratorium seziert er Leichen auf der Suche nach verqueren Antworten.

Es ist eine seltsame, zu gleichen Teilen faszinierende wie unheimliche Welt, in die uns Filmemacher Chris Kraus in seinem visuell außergewöhnlichen Vor-Weltkriegsdrama „Poll“ entführt. Schon der Anblick des inzwischen auf morschen Stelzen stehenden Haupthauses mit seiner imposanten, klassizistischen Fassade kann den Betrachter förmlich erschlagen. An diesem Ort, direkt an der rauen Küste, vollziehen sich eine Vielzahl folgenschwerer Veränderungen, die uns Kraus durch die Augen einer ganz besonderen Heranwachsenden näherbringt. Es ist die Sicht eines pubertierenden Mädchens, das später als Oda Schaefer in die deutsche Literaturgeschichte eingehen soll. Ihre von Unsicherheit und Angst geprägte Adoleszenz verknüpft der Film mit einer atmosphärischen Milieuschilderung, bei der man zuweilen glaubt, Teil eines dunklen Märchens zu sein.

Übertragen auf die Literatur wirkt die entlegene Gegend um Poll wie eine Ostsee-Variation des „Zauberbergs“. Der Tod ist in beiden Geschichten allgegenwärtig. Während sich am Horizont bereits der Schrecken des Ersten Weltkrieges ankündigt, forscht Odas Vater wie ein Besessener an Leichen und deformierten Körpern. Sein Laboratorium weist dabei den Weg in eine gefährliche Sackgasse. Es ist letztlich ein Irrweg, bei dem ein Mann glaubt, das Wesen eines Menschen an dessen Gehirnform festmachen zu können. Wohin solche und andere krude Thesen später noch führen werden, ist hinlänglich bekannt. Das morbide Element durchzieht Kraus’ Film wie ein roter Faden, an dem alle Episoden dieser vom Verfall gekennzeichneten Epoche letztlich festgemacht sind.

Nicht wenige Filme wollen große Geschichten erzählen. Allein den wenigsten gelingt dieses Kunststück. „Poll“ gehört zweifelsfrei dazu. Bereits die Bildsprache stellt den dafür notwendigen Mut unter Beweis. Die Kamera von Daniela Knapp scheut nicht das Monumentale, wenn sie entfesselt über das Anwesen der von Sierings kreist und so den bröckelnden Glanz dieser Aristokratenfamilie im Lichte einer untergehenden Sonne einfängt. Das sind Kinobilder, wie man sie im deutschen Film leider viel zu selten findet – gemacht für eine große Leinwand. Veredelt wird diese aufwändige und mutige Produktion von einem Ensemble, das im Zusammenspiel keinen einzigen Misston erkennen lässt. Vor allem die junge Paula Beer und ihr Filmvater Edgar Selge, der Ebbo von Siering mit einer beängstigenden Kälte und Konsequenz verkörpert, dürften bei künftigen Preisverleihungen im Mittelpunkt stehen.

Marcus Wessel

Das Baltikum kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die politische Vorherrschaft besitzen nun im Gegensatz zu früher, als die Deutschbalten das Sagen – vor allem über die unterdrückten Einheimischen – gehabt hatten, die Russen. Sie kontrollieren die Region.

Auch das Landgut der Familie von Siering. Die Tochter Oda kommt aus Berlin zurück – mit dem Leichnam der Mutter, die daheim beerdigt wird. Ebbo von Siering, Odas Vater, ist ein kauziger Hirnforscher. Weiter auf dem Gut: Odas musizierende Tante Milla, die mit dem Verwalter Mechmershausen schläft, sowie Cousin Paul, junger Kadett der russischen Armee, der der in diesem Falle ziemlich herablassenden Oda ungeschickt den Hof macht.

Die frühere friedliche Zeit ist vorbei. Jetzt sind die Deutschen gegen die Balten, die Russen gegen die Deutschen, die anarchistischen Rebellen gegen alle.

Einen solchen – verwundeten – Rebellen und Autor findet Oda. Sie versteckt ihn, dann pflegt sie ihn, dann liebt sie ihn, obwohl erst 14 Jahre alt. So sehr, dass sie mit ihm fliehen will. Doch nichts geht mehr, auch für Oda nicht. Nach einem großen Brand im Landgut findet Mechmershausen den Anarchisten. Schüsse fallen. Der Zusammenbruch ist längst da.

Oda war als Oda Schaefer eine ernst zu nehmende Dichterin. Auf ihren Memoiren fußt der Film. Sie starb 1988.

Also keine erfundene, sondern eine wahre Geschichte. Chris Kraus („Vier Minuten“) hat sie groß angelegt: was den Unfrieden der Epoche, was den merkwürdig spleenigen Vater, was die unerfüllt scheinende Tante Milla, was das Verhalten des aufrührerischen Anarchisten, was die dramatische Liebesgeschichte, was das Wesen der jungen Oda, was das tragische Ende angeht.

Der Film hat eindrucksvolle Bilder, hervorragende Darsteller – etwa Paula Beer als Oda oder Edgar Selge als ihr Vater -, hat auch dramaturgische Schwächen und Ausstattungsmängel (Herrenhaus), kann aber insgesamt als deutsches Kinostück von historischem Interesse und einigem künstlerischem Rang gelten.

Thomas Engel