Pornfluencer

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Pornografie ist gefühlt allgegenwärtig, aber nach wie vor ein eher heikles Tabuthema. Der stilistisch interessante Dokumentarfilm „Pornfluencer“ ist kein Rundumblick zum weiten Themenfeld, sondern beobachtet das Leben und die Arbeit des Amateur-Paars Jamie Young und Nico Nice, das seinen Lebensunterhalt mit pornografischer Selbstvermarktung bestreitet. Im Wesentlichen geht es um die Dynamik zwischen dem Paar, die sich bald als Abhängigkeitsverhältnis mit klarer Rollenverteilung entpuppt. Seine Weltpremiere feierte der Film 2022 auf dem DOKfest München 2022.

Webseite: salzgeber.de/pornfluencer

Deutschland 2022
Regie: Joscha Bongard
Drehbuch: Joscha Bongard, Wolfgang Purkhauser
Mitwirkende: Jamie Young, Nico Nice, Sylvia Sadzinski, Andreas Baranowski

Laufzeit: 74 Min.
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 14. Juli 2022

FILMKRITIK:

„Hebe deinen linken Arm, wenn du schon mal einen Porno gesehen hast,“ sagt eine Off-Stimme zum meditativ aufgezogenen Einstieg. Davon angesprochen fühlen dürfte sich ein Großteil des Publikums. Im Internetzeitalter sind Pornoclips sämtlicher Sparten jederzeit gratis verfügbar. Und mit erschwinglichen Digitalkameras und Programmen zur Videobearbeitung sowie diversen Werbe-Tools streben immer mehr Amateurpaare ins vormals von Studiofilmen geprägte Pornogeschäft. Eins davon porträtiert Regisseur Joscha Bongard in seinem Dokumentarfilmdebüt „Pornfluencer“.

Seit sie Anfang 20 sind, drehen Andreea und Nico aka Jamie Young und Nico Nice beziehungsweise „Youngcouple9598“ Pornos in Eigenregie. Nico besorgt den Aufbau und die Inszenierung, Andreea die Postproduktion. Schon im ersten Monat verdienten sie eigenen Angaben zufolge 10.000 Euro, Tendenz steigend. Seit 2018 sind rund 270 pornografische Clips entstanden, heute leben Andreea und Nico mit ihren Katzen in einer Mietvilla auf Zypern. Der Film zeigt den Launch der neuen Website, das heimische Fitnessstudio, einen Pornodreh oder wie das Paar Darstellerinnen über eine Budapester Agentur bucht. Aufgemacht ist das Porträt ganz passend als eine Art Desktop-Film, bei dem das Hin- und Herklicken im Stream die Internetnutzung imitiert.

Zum Auftakt sehen wir eine Nachricht, die Joscha Bongard zwecks Kontaktaufnahme an das Paar geschickt hat. Die darin geäußerte Idee, einen „sex-positiven, einfühlsamen und ehrlichen Dokumentarfilm über Verified Couples zu drehen“, ist letztlich in eine andere Richtung gegangen. Das vom Streaming-Imperium Mindgeek dominierte Pornobusiness mit zig Videoplattformen, die im Film als „YouTube für Beischlafvideos“ beschrieben werden, wird nur am Rande thematisiert. Auch die Statements der feministischen Kuratorin Sylvia Sadzinski und des Sexualpsychologen Andreas Baranowski fallen kurz aus. Im Kern behandeln Bongard und der Co-Autor Wolfgang Purkhauser die Beziehungsdynamik zwischen Andreea und Nico, die fernab einer vorurteilsbehafteten Sicht auf Pornografie schief erscheint.

Auch wenn sich die beiden stets als ehrlich Liebende zeigen, folgt das Zusammenleben klar patriarchalen Mustern mit Nico als treibender Kraft hinter der Pornolaufbahn. „Bitte reiß dich ein bißchen zusammen,“ herrscht er, wenn Andreea nicht für TikTok posieren will. An Stellen wie diesen spürt man die fehlende Augenhöhe. „Wenn ich brav bin, kann nicht viel passieren,“ sagt Andreea. Den Hintergrund der Beziehung hellt eine Passage auf, in der Nico begeistert von Erfahrungen in der sogenannten Pick-Up-Szene berichtet. Vordergründig geht es dabei um Flirt-Coachings. Aber schon die im Film gezeigte Collage aus Vorträgen der Art „Wie du demnächst mehr knattern kannst“ lässt eine Verachtung für Frauen als sexuelle Verfügungsmasse durchblicken, die von Psycho-Tricks bis hin zum Ausspielen körperlicher Stärke reicht. Auch Andreea und Nico haben sich auf der „Pick-Up-Schiene“ kennengelernt. Noch beklemmender wirken die Einblicke, wenn man bedenkt, dass das Paar in weitgehender Zweisamkeit isoliert lebt, Impulse von außen also fehlen. Andreeas Mutter war über die Pornokarriere der Tochter „geschockt“, Freunde zeigten sich „enttäuscht“, der Kontakt brach ab.

Joscha Bongard verurteilt weder das Beziehungs- noch das Geschäftsmodell, sondern beobachtet das Paar aus mittlerer Distanz in oft langen, kommentarlosen Einstellungen. Allenfalls einige mehr oder minder subtile Schnitte von Wolfgang Purkhauser üben Kritik, wenn etwa der Pick-Up-Exkurs wohl nicht zufällig auf das Wort „Vergewaltigung“ endet. Mit zunehmender Laufzeit wirkt die Beziehung des „Youngcouple9598“ problematischer, was sich auch bei der morgendlichen Selbstaffirmation vor dem Spiegel zeigt. „Alle Frauen lieben meinen Penis,“ sagt Nico zu sich selbst, und Andreea gelobt: „Ich mache alles, was Nico sagt.“

 

Christian Horn