Queer

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Fast schon traditionell wurde Luca Guadagnino in Venedig auch für seine jüngste Lovestory gefeiert. Beruhend auf dem gleichnamigen Roman von Kultautor William S. Burroughs gibt Ex-007 Daniel Craig (nicht zum ersten Mal!) den schwulen Helden. Als vermögender US-Amerikaner lebt er in den 1950er Jahren in Mexiko-Stadt. Dort verknallt er sich in den jungen, attraktiven Eugene. Gemeinsam reist das Paar nach Südamerika, um sich auf die Suche nach der halluzinogenen Pflanze Yage zu machen. Gekonnt kompromisslos erzählt, rigoros raffiniert inszeniert sowie grandios intensiv gespielt. Wieder ein Guadagnino mit Instant-Klassiker-Qualitäten. Beim Istanbul Filmfestival wurde die Aufführung verboten - gleichsam ein Ritterschlag durch homophobe Steinzeit-Funktionäre. Welcher Regisseur schafft das heutzutage noch!

Webseite: https://mubi.com/de/de/films/queer

Italien, USA 2024
Regie: Luca Guadagnino
Darsteller: Daniel Craig, Drew Starkey, Jason Schwartzman, Lesley Manville

Filmlänge: 135 Minuten
Verleih: MUBI Deutschland GmbH / DCM Film Distribution GmbH
Kinostart: 2. Januar 2025

FILMKRITIK:

„Du bist nicht queer!“ sagt Lee (Daniel Craig) zum Jüngling mit den Sommersprossen. Der Satz wird noch häufig fallen, ein Dutzend Mal mindestens. Queer or not queer – das ist hier die Frage. Selbst der schwule Held hat da so seine Identitätsprobleme: „Ich bin nicht queer. Ich bin nur körperlos“, kommentiert und kokettiert er bisweilen gerne. Im perfekten Outfit, mit beigem Leinenanzug, schicker Sonnenbrille samt einer Pistole im Halfter kann es William Lee in Sachen Coolness fast mit James Bond aufnehmen. In perfekter Lässigkeit stolziert er zu den „Nirvana“- Klängen von „Come As You Are“ durch die Straßen. Wie 007 ist dieser Lee ein chronisch einsamer Wolf, wenn es um die Liebe geht. Bei One-Night-Stands darf das Objekt der Begierde gerne halb so alt sein wie er selbst. Als Held des semi-autobiographischen William Burroughs-Romans steht Lee freilich weniger auf hübsche Girls als auf attraktive Boys.

Mit den Taschen voller Geld braucht der US-Bürger in Mexiko-Stadt nicht allzu lange, die einschlägigen Kontakte zu finden. Nach fünfzehn Filmminuten erlebt man Lee im Stundenhotel mit einem Sexarbeiter. Der Kick durch den gekauften Lustgewinn hält freilich nicht lange an. Ohnehin interessiert ihn ein junger Mann auf der Straße als Objekt der Begierde sehr viel mehr. Schon allein deshalb, weil der selbstbewusste Schönling namens Eugene Allerton sich ziemlich zugeknöpft gibt. Alle bewährten Flirt-Versuche scheinen vergeblich, ein Korb folgt dem nächsten. Aber schließlich hat der erfahrene Jäger den jungen Hirsch doch erfolgreich abgefüllt und sein Apartment abgeschleppt. Den Triumph genießt Lee lässig mit einer Kippe im Mund. Am Morgen danach gibt sich der junge Mann weiter widerspenstig. Provokativ flirtet Eugene in Lees Lieblingslokal lieber heftig mit seiner Schach-Partnerin als mit zu reden. Wütend vor Eifersucht und komplett bedröhnt, taucht der gekränkte, heftig verknallte Lover auf einer Party auf, wo die Sache eskaliert.

Ein zweites Kapitel wird aufgeschlagen, „Reisegefährten“ ist es überschrieben. „Zwei Mal in der Woche musst du zu mir nett sein“, lautet der Deal, damit Eugene seinen Gönner auf seiner Südamerika-Reise begleitet. Tatsächlich kommt es auf dem Trip zum wilden Sex. „Es hat dich doch nicht gestört?“ – „Geht schon!“ – „Aber du hast es doch ein bisschen genossen?“ klingen die Dialoge danach.

Im dritten Episoden-Streich geht’s dann ziemlich esoterisch und surreal zu, „Botanikerin im Dschungel“ heißt  das Kapitel, in dem sich das Duo auf die Suche nach psychoaktiven Drogen macht. Eine alte Kräuterhexe im Dschungel hat die heiße Ware. Der Stoff hat es in sich. Da verschmelzen die Körper im wahrsten Sinn des Wortes miteinander. Dem psychedelischen Trip folgt ein enormer Kater – und der ist gekommen, um zu bleiben. Fortan sorgen Wahnvorstellungen für chronische Verunsicherung.

Mit dem verspielt sinnlichen Coming-of-Age-Drama „Call Me By Your Name“ gelang Luca Guadagnino vor sechs Jahren ein oscarprämierter Indie-Hit, der Timothée Chalamet den Durchbruch verschaffte. Wurde dort bei Sex-Szenen noch dezent weggeblendet, hält die Kamera diesmal gerne drauf. Der fünffache 007-Haudegen Daniel Craig hat sichtlich Spaß an solcher Freizügigkeit. Mit welch emotionaler Wucht er den ebenso verliebten wie verzweifelten Helden gibt, der zwischen Leidenschaft, Hoffnung und Enttäuschung balanciert, ist schon eine Klasse für sich. Der 31-Jährige Drew Starkey lässt sich vom charismatischen Gegenüber nicht beeindrucken, ganz im Gegenteil: Auch er zeigt sichtlich Vergnügen, im Liebespoker alle Trümpfe in der Hand zu halten und seinen Verehrer mit charmanter Lässigkeit gehörig zappeln zu lassen.

Mit gewohnter Stilsicherheit lässt Luca Guadagnino sein Mexiko-Stadt der 50er Jahre komplett in den legendären Cinecittà-Studios von Rom auferstehen. Derweil der irische Star-Designer Jonathan Anderson, wie schon bei „Challengers -Rivalen“, für den Wow-Effekt bei den Kostümen sorgte. Für magischen Realismus ist gleichfalls gesorgt. Etwa wenn das Paar sich gemeinsam „Orpheus“ von Cocteau anschaut und das Verlangen von Lee plötzlich surreale Qualitäten annimmt. Oder später, wenn sich im Drogenrausch, die beiden Körper real verschmelzen.

Mit „Queer“ gelingt Luca Guadagnino abermals ein flirrender Arthaus-Coup über rigoroses Verlangen. Auf seine geplante „Buddenbrooks“-Verfilmung kann man gespannt sein.

 

Dieter Oßwald