Rosalie

Zum Vergrößern klicken

Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich: Rosalie ist eine junge, schöne Frau, die mit einer starken Gesichts- und Körperbehaarung geboren wurde. Statt sich zu verstecken, geht sie in die Offensive.
Die Story orientiert sich lose an der Biografie der Französin Clémentine Delait, die Ende des 19. Jahrhunderts als „bärtige Frau“ bekannt wurde und ist mit Nadia Tereszkiewicz („Forever Young“) und Benoît Magimel („Geliebte Köchin“) großartig besetzt – ein mitreißend gefilmter, zu Herzen gehender Film über eine couragierte Frau, die sich zum Anderssein bekennt.

Webseite: https://www.x-verleih.de/filme/rosalie/
Frankreich 2024
Regie: Stéphanie Di Giusto
Drehbuch: Stéphanie Di Giusto, Sandrine Le Coustumer
Darsteller: Nadia Tereszkiewicz, Benoît Magimel, Benjamin Biolay, Guillaume Gouix, Aurélia Petit
Kamera: Christos Voudouris
Musik: Hania Rani
Länge:115 Minuten
Verleih: X Verleih
Start: 19. September 2024

FILMKRITIK:

Für Rosalie (Nadia Tereszkiewicz) ist die bärtige kleine Holzfigur der Heiligen Kümmernis ihr größter Trost. Sie soll heiraten, aber sie hat große Angst davor. Ihr Vater begleitet sie auf dem Weg zu ihrem künftigen Ehemann. Die schöne, junge Rosalie ist von schlimmen Zweifeln erfüllt: Wird ihr Mann Abel (Benoît Magimel) sie lieben? Denn Rosalie hat ein Geheimnis, und das wird er zweifellos in der Hochzeitsnacht entdecken.

Stéphanie Di Giustos zweiter Kinofilm nach „Die Tänzerin“ (2016) ist ein außergewöhnliches Melodram, und das gilt nicht nur für die Zartheit und die Melancholie, die über dem gesamten Film liegt wie ein feiner, leichter Schleier, sondern er beginnt auch schon mit vielversprechenden Bildern. Rosalie erwacht aus einem Alptraum, ein Kreidekreuz ziert den Boden ihres Schlafzimmers, sie küsst das Foto eines Soldaten, ihr liebevoller Vater bringt ihr ein Sträußchen selbst gepflückter Blumen.

Rosalie hat ein Problem: Sie ist am ganzen Körper behaart und rasiert regelmäßig ihr Gesicht, um ihren Bartwuchs zu verbergen. Doch das erfährt das Publikum erst zusammen mit Rosalies frischgebackenem Ehemann Abel, der beim Blick auf ihre behaarte Brust wütend reagiert und sie nach Hause schickt – aber sie bleibt. Di Giusto zeigt all das mit einer der schönsten Expositionen der vergangenen Kinojahre in wunderbar gestalteten Bildern und praktisch ohne Dialoge. Scheinbar beiläufig werden die wichtigsten Personen der Handlung vorgestellt. Abel, der Ex-Soldat, vermutlich aus dem französisch-preußischen Krieg von 1870/71, der schwer verwundet wurde und nun als Wirt und Tierpräparator arbeitet. Benoît Magimel („Geliebte Köchin“) spielt ihn als schweigsamen Eigenbrötler. Rosalies Mitgift soll ihn vor dem Ruin retten, denn Abel ist hoch verschuldet. Nur deshalb hat er sich auf den Handel eingelassen, eine Frau zu heiraten, die er nicht kennt. Sein Gläubiger ist der reiche Fabrikant Barcelin (immer leicht bedrohlich: Benjamin Biolay), der unangefochtene Herrscher über Land und Leute. Mit seiner Textilfabrik nutzt er die Arbeiter schamlos aus – alle sind von ihm abhängig. Und schließlich Rosalie: eine gebildete junge Frau mit klugen Augen und einem wachen Verstand, die allen ihren Mitmenschen verständnisvoll und liebenswürdig begegnet. Nadia Tereszkiewicz, die sich immer mehr zum Star der französischen Arthouse-Szene mausert, spielt sie mit einer Mischung aus handfestem Charme und anmutiger Zerbrechlichkeit. Eine eigentlich sehr lebenslustige junge Frau, die mit dem Mut der Verzweiflung und sehr viel Willenskraft um ihre Akzeptanz kämpft – ihrer Zeit weit voraus, aber im Grunde hat sie keine Chance, sich gegen die herrschenden Konventionen durchzusetzen.

Als sich Rosalie dafür entscheidet, offensiv zu ihrer Behaarung zu stehen, und sich einen schmucken Vollbart wachsen lässt, wird sie zur Attraktion des verschlafenen Landgasthofs. Die Gäste strömen in Abels Lokal, um die bärtige Frau zu sehen, die sie stets liebenswert und zuvorkommend bewirtet. Rosalie blüht auf, wird immer mutiger und wagt es sogar, dem herrischen und ihr feindlich gesinnten Barcelin zu widersprechen. Doch während sich Abel und Rosalie langsam und vorsichtig immer näher kommen, brodeln die Gerüchte innerhalb der Dorfgemeinschaft. Und Barcelin sinnt auf Rache.

„Rosalie“ ist ein extrem facettenreicher, stimmungsvoller Film und sicherlich eine der schönsten Liebesgeschichten des Kinojahres, auf jeden Fall aber ein sehenswertes Melodram mit einer überwältigenden Bildsprache, in der vieles nebenbei und dadurch umso einfühlsamer vermittelt wird: Rosalies persönliches Drama, das sie ungewollt und unschuldig zum Opfer des herrschenden Zeitgeistes macht. Aber da ist auch die drückende Atmosphäre der Frühindustrialisierung, die hier nichts vom Aufbruch in eine neue Zeit hat, sondern stattdessen vor allem von Ausbeutung erzählt. Ebenso beiläufig geht es um die Folgen der schweren Kriegsverletzung des Ex-Soldaten Abel, der ständig Schmerzen hat und ein klobiges Korsett tragen muss. Rosalie und Abel sind sich ein wenig ähnlich in ihrer Geduld, ein Schicksal zu erdulden, das sie nicht ändern können, und in ihrem Willen, daraus das Beste zu machen. Doch auch Rosalies Kampfgeist ist irgendwann erschöpft.

Kein Wort ist hier zu viel, Stéphanie Di Giusto erzählt in Gesten, Blicken und Andeutungen eine wunderbar melancholische Geschichte, die dennoch nicht ins Schwermütige oder gar Depressive verfällt, sondern schon durch die Performance der herausragenden Nadia Tereszkiewicz einen angenehm leichten Charakter bewahrt. Großes französisches Arthouse-Kino!

Gaby Sikorski