Schattenstunde

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Den Opfern der Konzentrationslager wurden schon viele Denkmäler gewidmet. Aber nur wenige Filme beschäftigen sich mit denen, die so in die Enge getrieben wurden, dass sie keinen anderen Ausweg als den Suizid sahen. In einer ergreifenden Hommage schildert Nachwuchsregisseur Benjamin Martins die letzten Stunden des christlichen Autors Jochen Klepper, seiner Frau Johanna und seiner Stieftochter Renate.

Website: www.missingfilms.de/index.php/filme/10-filme-neu/336-schattenstunde

Deutschland 2021
Regie und Drehbuch: Benjamin Martins
Darsteller: Christoph Kaiser, Beate Krist, Sarah Palarczyk, Dirk Waanders, Boris Becker
Länge: 78 Minuten
Verleih: missingFilms
Kinostart: 27.1.2022

FILMKRITIK:

10. Dezember 1942: Im Büro von Adolf Eichmann (Dirk Waanders), Cheforganisator des Mordes an sechs Millionen Juden, geschehen seltsame Dinge. Gerahmte Fotografien fangen an zu sprechen. „Schäm‘ dich“ rufen sie dem Schriftsteller Jochen Klepper (Christoph Kaiser) zu, der da auf dem Stuhl vor Eichmanns Schreibtisch sitzt. „Pfui“ schimpfen die Bilder erneut, nennen den Autor einen „Verräter“ und fordern „weg‘ mit ihm“. Eichmann freilich kann diese Stimmen nicht hören. Die sprechenden Rahmen sind surreal, nach außen gekehrte Visualisierungen von Kleppers Ängsten. Dass der Romancier und Liederdichter zu einem der höchstrangigen Nazis zitiert wurde, verheißt wenig Gutes. Auch wenn der Massenmörder sich plötzlich poetisch gibt: „Sie sind wie Wasser in einer Vase“, lobt er den Vorgeladenen. Als Schnittblume fungiert in der Metapher das Volk, das sich von dem Wasser des Dichters nährt. Einziges Problem: Kleppers Frau ist Jüdin, sie lässt das Wasser faulen. Der Mann soll sich scheiden lassen, dann darf er weiter schreiben.

Jochen Klepper (1903 bis 1942) kennen heute nur wenige. Er studierte Theologie, wandte sich dann aber dem Schreiben zu. 1933 veröffentlichte er den Roman „Der Kahn der fröhlichen Leute“, ein Jahr zuvor hatte er eine Arbeit beim Rundfunk gefunden. Als etablierter christlicher Autor dichtete er einige der bedeutendsten Kirchenlieder des 20. Jahrhunderts. Wer heute ein evangelisches oder katholisches Gesangbuch aufschlägt, wird auf ihn stoßen. Mit dem Nazi-Regime bekam er keine Probleme wegen seiner Texte, sondern wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD und vor allem wegen seiner Ehe. 1931 hatte er als 28-Jähriger die 13 Jahre ältere jüdische Witwe Johanna Stein (Beate Krist) geheiratet. Mit ihr und Stieftochter Renate (Sarah Palarczyk) lebte er in Berlin. Von Eichmann persönlich erfuhr er, dass der Ausreiseantrag für Renate abgelehnt wurde. Außerdem kündigte ihm der oberste Judenjäger an, dass die Ehe mit Johanna demnächst sowieso zwangsgeschieden werde. Beiden Frauen droht die Deportation ins Vernichtungslager.

Wie ein Kammerspiel zeichnet Regisseur und Drehbuchautor Benjamin Martins die letzten Stunden der Familie Klepper nach, die lieber gemeinsam in den Tod ging als getrennt zu werden. Es ist eine ergreifende, aber keineswegs untröstliche Inszenierung. Basierend auf Kleppers Tagebuchaufzeichnungen, findet Martins immer neue, immer wieder überraschende Stilmittel, um innerste Gewissenbisse, Zweifel, aber auch die Hoffnung auf Erlösung äußerlich sichtbar zu machen. Dabei verdeutlichen der Regisseur und sein Kameramann Malte Papenfuss die Unfreiwilligkeit des gemeinsamen Suizids visuell von der ersten Einstellung an. Gedreht ist der Film in einem quadratischen 1:1-Format, einem unmissverständlichen Symbol für die Enge, die die Verfolgten immer mehr einschnürte und ihnen letztlich den Atem nahm. Wie Klepper anfangs seinem fassungslosen Nachbarn und Freund berichtet, legten damals in Berlin 20 bis 30 Familien in derselben Zwangslage Hand an sich. Und zwar jeden Tag.

Martins‘ Hommage an den christlichen Dichter enthält natürlich auch eine sehr aktuelle Botschaft, selbst wenn sie an keiner Stelle explizit ausgesprochen wird. Aber die zweite lange Arbeit des Nachwuchsregisseurs ist keineswegs eindimensional. Seine Warnung vor dem immer stärker aufkommenden Antisemitismus und Rechtspopulismus weitet sich zu einer berührenden Hymne auf die alles besiegende Kraft der Liebe - und zu einem stillen Hohelied auf die Menschlichkeit und ihre Grundlagen: Freiheit, Würde und Selbstbestimmung auch im Äußersten. In jeder Einstellung lässt der fast ausschließlich im selben Raum spielende Film ahnen, wie intensiv sich der Regisseur in das Leben und Werk des Dichters hineingedacht hat. Das gilt auch für die universellste aller menschlichen Fragen: Wird die Seele die Trennung vom Körper überleben und wird man sich am anderen Ufer wiedersehen? Natürlich gibt es darauf keine Antwort. Aber einem Schriftsteller kann man wohl nicht ernsthafter huldigen, als dass man sein Denken zum Anlass für eigene Suchbewegungen nimmt.

Peter Gutting