Schirkoa: In Lies we Trust

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Das Kino erzählt gerne von dystopischen Welten, in denen die individuelle Freiheit bedroht ist und sich wagemutige Figuren gegen ein autokratisches Regime stellen. Insofern bewegt sich der indische Regisseur Ishan Shukla mit seinem Debütfilm „Schirkoa: In Lies we Trust“ zumindest ansatzweise in bekannten Bahnen, doch vor allem visuell hat der Animationsfilm viel zu bieten.

Schirkoa: In Lies we Trust
Indien/ Frankreich/ Deutschland 2023
Regie & Buch: Ishan Shukla
Animationsfilm

Länge: 103 Minuten
Verleih: RapidEyeMovies
Kinostart: 29. August 2024

FILMKRITIK:

Mit einer Papiertüte über dem Kopf bewegt er sich durch die Stadt, auf ihr steht 197 A, seine Erkennungsnummer. So wie er sind alle Bewohner von Schirkoa, einer an New York erinnernden Metropole, nicht zu unterscheiden, sind austauschbare Sklaven des Systems.
Proteste gibt es zwar gelegentlich, aber 197 A kümmert sich wenig um den Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung, hat auch kein Interesse daran, seiner Affäre 242 B bei dem Versuch zu folgen, Schirkoa zu verlassen und das sagenhafte Konthaqa zu erreichen, eine Stadt, in der die Menschen in Freiheit leben sollen.
Als Anomalie werden jene bezeichnet, die Schirkoa verlassen wollen, die nicht schätzen, was sie hier (scheinbar) haben. Äußerlich sind sie zumindest teilweise durch Hörner auf dem Kopf oder Flügel auf dem Rücken zu erkennen – und werden als Systemfeinde gejagt.
Gerade als er zum Zeil des Rates von Schirkoa werden soll, entdeckt auch 197 A, das er Hörner auf dem Kopf hat. Notgedrungen flieht er aus der Stadt und landet in einer anderen Welt: Bunt, wild und exzessiv mutet Konthaqa an, scheint all das zu sein, was Schirkoa nicht ist. Doch ist das Leben in der Alternativwelt tatsächlich die lang erhoffte Freiheit oder nur eine andere Form stromlinienförmiger Existenz?
Ein wenig gewöhnungsbedürftig muten die Bilder von „Schirkoa: In Lies we Trust“ an, die weniger mit den hochgezüchteten animierten CGI-Bildern von Hollywood-Filmen a là Pixar zu tun haben, als mit denen von Videospielen und vor allem Kunstinstallation, wie man sie zunehmend im Museumsbetrieb findet. Kein Wunder, denn Ishan Shukla hatte für seinen Debütfilm kein hohes Budget zur Verfügung, konnte nicht Hundertschaften Jahrelang über jedem einzelnen Bild sitzen lassen, sondern nutzte die Möglichkeiten der sogenannten Unreal-Engine, dem seit Jahren beliebtesten Tool beim Produzieren von Videospielen.
Das Ergebnis sind Bilder, die gleichzeitig realistisch, aber immer auch etwas eckig und irreal wirken, in denen die Kamera sich zwar fließend bewegen kann, aber nie ganz natürlich wirkt. Kurz gesagt: Das ideale Stilmittel um eine Doppelwelt aus Dystopie und Utopie zu zeigen, aus gesichtsloser, spätkapitalistischer Metropole und in tausend Farben und Exzessen strahlender Hippiephantasie.
Keine besonders komplexe Dualität, die gerade beim Betreten der Hippiewelt auch schnell und bewusst zu visuell Überreizung führt. Denn diese scheinbare Utopie erweist sich bald als andere Form der Dystopie, als andere Form eines autoritären Zustandes. Auch wenn Shukla die Fragen, die sein Ansatz aufwirft nie ganz zu Ende denkt, deutet er doch an, dass der Wunsch nach einer Revolution, wie er in der Realität, aber natürlich auch im Kino oft gestellt wird, eine entscheidende Frage gerne ignoriert: Was kommt nach der erfolgreichen Revolution, was kommt, nachdem die autokratischen Herrscher, die Diktatoren gestürzt sind? Die Antwort lautet allzu oft: Chaos. Angesichts dieses Ansatzes bewegt sich „Schirkoa: In Lies we Trust“ zwangsläufig in einer erzählerischen Schleife, aus der es kaum ein Entrinnen gibt. Zumindest nicht für die Gesellschaft als Ganzes, aber durchaus für Individuen wie A 197 und B 242, die erkennen, dass es manchmal besser ist, an sich selbst zu denken.

Michael Meyns