Schlamassel

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Ein paar Jahre nach der Wende spielt Sylke Enders neuer Film „Schlamassel“, doch er ist keiner der vielen nostalgischen Rückblicke auf die 90er Jahre, auf die DDR, auf die Vergangenheit, die zuletzt im deutschen Kino entstanden. Statt dessen zeigt die durch „Kroko“ bekannt gewordene Regisseurin eine Frau, die mit sich und dem Leben ringt, die Wut hat, worauf, das ist ihr selbst nicht so ganz klar, denn wie die Vergangenheit auf die Gegenwart wirkt ist kompliziert.

Deutschland 2022
Regie & Buch: Sylke Enders
Darsteller: Mareike Beykirch, Lore Stefanek, Michaela Caspar, Margarethe Tiesel, Lina Wendel, Anja Schneider

Länge: 115 Minuten
Verleih: déjà-vu Film
Kinostart: 28. September 2023

FILMKRITIK:

1997, irgendwo in der Brandenburgischen Provinz. Die 32jährige Johanna (Mareike Beykirch) arbeitet als Praktikantin bei einem lokalen Käseblatt, verdient sich mit Fotoarbeiten etwas dazu und ist durch und durch unzufrieden mit ihrem Leben. Bei der Beerdigung der Großmutter konfrontiert sie einen Onkel, dem das Erbe zugesprochen wurde, aber auch das ist ihrer Mutter nicht recht. In der Kneipe herrschen Glatzen, die später sogenannten Baseballschlägerjahre laufen, das Leben auf dem Land ist öde, die versprochenen blühenden Landschaften kommen nicht recht in Schwung, die Zukunft ist so grau wie der Blick über die brachliegenden Felder.

Da passt es Johanna gerade so in den Kram, dass sie ein altes Foto findet auf dem eine KZ-Aufseherin zu sehen ist. Es ist Anneliese Deckert (Lore Stefanek), eine inzwischen 80jährige Frau aus der Kleinstadt. Ohne recht zu wissen warum, besucht sie die alte Dame, will ihr das Foto zurückgeben, provoziert eine Konfrontation. Überrascht sind die Angehörigen von Anneliese Deckert nicht, irritiert dagegen schon: Warum will Johanna diesen Teil der Vergangenheit aufwirbeln, fragen sie, doch im Gegensatz zu ihrer Tochter und deren Mann, will Anneliese reden, will berichten, vielleicht zum ersten Mal.

Was Johanna zu Hause, bei ihrer Mutter, bei ihrer Schwester, nicht kann, das kann sie unter dem Dach der Fremden: Reden, Zuhören, sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, Zusammenhänge begreifen, verstehen, wie längst vergangene, vergessene, auch verdrängte Ereignisse, die Gegenwart beeinflussen.

Gleich mit ihrem Debütfilm „Kroko“ gelang der in Brandenburg aufgewachsenen Sylke Enders ein großer Erfolg, ein rohes, ungeschminktes Coming-of-Age-Drama, das dezidiert einer Ostdeutschen Befindlichkeit entsprang. Filme wie „Mondkalb“ oder „Schönefeld Boulevard“ variierten die Thematik, erzählten vom Aufwachsen im Osten des zwar offiziell nicht mehr geteilten, aber doch nicht recht zusammenfindenden Deutschlands, erzählten von Frauenfiguren, die ihren Platz in der Gesellschaft suchten.

Stets belastete bei diesen Geschichten die Vergangenheit die Gegenwart, ein Thema, das Sylke Enders auch in „Schlamassel“ variiert. Auf den ersten Blick also ein sehr deutscher Film, eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, mit Schuld und Vergebung. Doch die Begegnung der Enkel mit der Großmutter-Generation, von Johanna mit Anneliese, ist nur der Ausgangspunkt für eine vielschichtige Auseinandersetzung über das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit.

Ein komplexes Geflecht aus Verweisen und Bezügen spinnt Enders, erzählt von (ost)-deutschen Befindlichkeiten ein paar Jahre nach der Wende, als sich längst die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass das Leben im vereinten Deutschland nicht so rosig werden wird, wie einst erhofft. Ein beobachtender Film ist „Schlamassel“, ohne forcierte Zuspitzung, ohne Katharsis, ohne, das sich das Leben der Hauptfigur auf einmal fundamental ändert. Doch gerade dieser scheinbare Stillstand, in dem es mehr um kleine Erkenntnisse geht, als um fundamentale Änderungen, lassen diese Charakterstudie so authentisch wirken.

 

Michael Meyns