Shambhala

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Der Himalaya ist noch immer eines der am wenigsten erschlossenen Gebiete der Erde – und das gilt auch für die Filmszene, wobei in den letzten Jahren einige engagierte Filmprojekte auf Festivals und in den Kinos für Furore sorgten, wie zuletzt „Was will der Lama mit dem Gewehr?“ von Pawo Choyning Dorji aus Bhutan.
Aus Nepal kommt der oscarnominierte Regisseur Min Bahadur Bham, dessen Kinodebüt „Kalo Pothi“ in Venedig 2015 gefeiert wurde. Mit „Shambhala“ erzählt er in faszinierenden, teils wie surreal anmutenden Bildern die Geschichte von Pema, die auf der Suche nach ihrem Ehemann Tashi durch die Wildnis zieht. Das ist pure Poesie – zweieinhalb Stunden Meditation vor dem Hintergrund der majestätischen Bergwelt.

Webseite: https://www.mfa-film.de/kino/id/shambhala/

Nepal, Frankreich, Norwegen, Hongkong, Türkei, Taiwan, USA, Katar 2024
Regie: Min Bahadur Bham
Drehbuch: Abinash Bikram Shah, Min Bahadur Bham
Kamera: Aziz Zhambakiyev
Darsteller: Thinley Lhamo, Sonam Topden, Tenzing Dalha, Karma Wangyal Gurung

Länge: 150 min.
Verleih: MFA+
Kinostart: 21. November 2024

FILMKRITIK:

Pema feiert Hochzeit, sie freut sich darauf, und ihre Eltern sind stolz auf sie. Wie es in Nepal üblich ist, heiratet sie nicht nur einen Mann, sondern alle drei Brüder einer Familie. Pemas Lieblingsmann wird der Händler Tashi, zu dem Mönch Karma, der im Kloster lebt, hat sie ein distanzierteres Verhältnis, und der jüngste Bruder Dawa ist ein stark pubertierender Junge, beinahe noch ein Kind, für den Pema ausschließlich mütterliche Gefühle hegt. Das Zusammenleben gestaltet sich harmonisch, Pema ist glücklich. Als Tashi mit der Karawane nach Lhasa reist, um dort Handel zu treiben, bleibt Pema allein mit Dawa zurück. Der Junge wird immer schwieriger, will nicht lernen, schwänzt die Schule und verhält sich aggressiv, so dass Pema den Lehrer zu sich nach Hause einlädt, um mit ihm über Dawa zu sprechen. Das Treffen endet allerdings mit einem total betrunkenen Lehrer, der am nächsten Morgen schlafend vor Pemas Tür liegt. Und damit nicht genug: Dawa erweist sich als intriganter Bengel, der das Gerücht streut, der Lehrer wäre der Vater von Pemas Kind, das sie erwartet. Auch Tashi erfährt davon, was zur Folge hat, dass er nicht mit der Karawane zurückkehrt. Pema zieht los, um ihn zu suchen, und Karma muss sie auf Befehl des Rinpoche, des Priesters, der sein Lehrer ist, begleiten.

Min Bahadur Bham, dessen Film Nepal bei den Academy Awards vertritt, erzählt in beinahe stoischer Ruhe, in sehr langen Einstellungen und sparsamen Kamerabewegungen – ungewöhnlich für alle unsere Sinne, nicht nur für die Augen – vom Alltag und von den Ritualen der Menschen, die hier oben leben. Die Zeit vergeht hier gemächlich, in einer uns fremden Langsamkeit. Zu Beginn, als sie frisch verheiratet ist, pflückt sie nebenher kleine gelbe Blüten, die sie später zum Färben von Wolle benutzt, aus dem sie schließlich einen Pullover strickt. Für ihren Liebsten, wie sie sagt. Hier braucht alles seine Zeit, und Bham zeigt anhand des Pullovers nicht nur, dass die Zeit voranschreitet, sondern auch, wie sich Pema einerseits an diesen Rhythmus anpasst und andererseits ihre Unabhängigkeit wahrt.

Die Atmosphäre des Films und der Bilder lässt sich am besten mit dem schönen Wort „magisch“ beschreiben. Beinahe unwirklich erscheint die Berglandschaft da oben jenseits der Baumgrenze, wo es tatsächlich kleine Ortschaften gibt, in denen eine Handvoll Menschen lebt, die sich mit der Natur arrangieren müssen, um über den Wolken zu überleben. Es gibt kaum Vegetation, und wenn Pema ins ewige Eis vordringt, dorthin, wo das ganze Jahr Schnee liegt, dann verstärkt sich der visuelle Eindruck einer surrealen Landschaft. Das ist wirklich und wahrhaftig eine andere Welt: Die Abhänge und Täler wirken wie monochrome Geröll- und Sandformationen von einem fremden Planeten, eine Steinwüste, in der erst durchs genaue Hinschauen die in Jahrmillionen geformten Strukturen sichtbar werden. Und davor stehen die kleinen Menschen mit ihren scheinbar kleinen Gedanken und Sorgen – im Gegensatz zu der alles beherrschenden Natur sind sie unbedeutend. Aber Pema will dennoch zu ihrem Recht kommen, sie will sich behaupten und rechtfertigen. Ihr Verhalten erinnert an die im ständigen Wind flatternden Gebetsfähnchen, die von der Gegenwart der Menschen erzählen und von ihrem Wunsch, erhört zu werden.

Der Film entwickelt sich dabei immer mehr zu einem Drama, in dem es weniger um den Kampf gegen die Natur und mehr um Pemas Identität geht. Die moderne Zeit bleibt dabei nicht völlig ausgespart: die Digitaluhr am Handgelenk des Bräutigams, Karmas Wunsch, Pilot zu werden ... Doch steht hier eigentlich gar nicht so sehr der Konflikt zwischen Tradition und Moderne im Vordergrund, sondern letztlich die Verknüpfung des Glaubens mit der Wirklichkeit.

 

Gaby Sikorski