Shikun

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Schon vor dem 7. Oktober 2023 drehte der israelische Regisseur Amos Gitai „Shikun“, was erwähnt werden sollte, denn vieles in dem experimentellen Film wirkt wie eine Reaktion auf das Massaker der Hamas. Dass all die Gedanken, die Trauer und Wut schon vorher so virulent waren, darf man durchaus als Zeichen verstehen, wie zwiegespalten und ambivalent die israelische Öffentlichkeit schon seit längerem ist.

Israel/Frankreich/Schweiz/Großbritannien/Brasilien 2023
Regie: Amos Gitai
Buch: Amos Gitai, Rivka Gitai, Marie-Jose Sanselme
Darsteller: Irène Jacob, Hana Laslo, Yael Abecassis, Bahira Ablassi, Menashe Noy, Pini Mittelman,

Länge: 85 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 26. Dezember 2024

FILMKRITIK:

In einem brutalistischen Wohnblock in Be’er Sheva bewegen sich unterschiedlichste Vertreter der israelischen Gesellschaft durch lange Gänge, die Passagen eines verlassenen Einkaufszentrums und den verfallenen Decks eines Busbahnhofs. Verbindendes Element, in gewisser Weise Hauptfigur, vielleicht auch der Chor, ist die französische Schauspielerin Irène Jacob, die mit zunehmender Wut Sequenzen aus Ionescos Stück rezitiert, vermischt mit Gedanken zur Situation Israels. Ihr begegnen Israelis, aber auch Palästinenser, orthodoxe Juden und Migranten aus aller Welt, ein Orchester mit Dudelsackspielern und ein einsamer Saxophonist. Symbolische Nashörner deutet an, wie stur sich zumindest Teile der israelischen Öffentlichkeit – und vor allem der Politik – verhalten.

1957 wurde Eugène Ionescos „Die Nashörner“ uraufgeführt und schnell als Reflexion über den zunehmenden Totalitarismus interpretiert. Die Nashörner, in die sich nach und nach die meisten Figuren verwandelten, standen symbolisch für das Herdendenken viel zu vieler Menschen, die ihren Führern gedankenlos folgten. Damals spielte Ionesco auf die französische Öffentlichkeit an, die den Verbrechen, die ihr Land in Algerien verübte, passiv zusah, heute verweist Gitai auf den Versuch der Netanjahu-Regierung, die israelische Verfassung zu verändern und seine Position zu stärken. Doch das ist nur ein Aspekt der israelischen Gegenwart, die schon vor dem 7. Oktober schwierig war, auch wenn viele Probleme verdrängt wurden und nur köchelten. In Dialogfragmenten verweist Gitai etwa auf Räumungen palästinensischer Häuser im Westjordanland, aber auch auf die Gentrifizierung in den Städten, auf den seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt um Land und Raum, sowie auf das Verhältnis der ultraorthodoxen Juden gegenüber der Mehrheit weltoffener, liberaler Israelis.

Schauplatz des Ganzen ist ein Shikun, ein Sozialbau in der Stadt Be`er Scheva, die im Süden Israels mitten in der Negev-Wüste liegt. In einem schier endlos langen Gang begegnen sich anfangs die Figuren, stehen sich symbolisch im Weg, weichen sich aus. Mal folgt die fließende Kamera von Eric Gautier diesen Figuren, dann anderen, mal hört man einen Monolog Irène Jacobs, dann eine Unterhaltung von Architekten. Geredet wird in einem schier babylonischen Sprachgewirr, in dem man neben Hebräisch und Jiddisch, auch Arabisch, Englisch und Französisch hören kann, Einwanderer aus der Ukraine kommen ebenso zu Wort wie Holocaust-Überlebende. Ein Panorama der israelischen Gesellschaft entsteht, in der wechselseitige Kräfte wirken. Wenn da eine Israelin einen Palästinenser küsst ist das ebenso Teil der Realität wie eine Unterhaltung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau: Um das Verhalten der israelischen Armee geht es, die laut Netanjahu „moralischste Armee der Welt“, eine Aussage, die bei Palästinensern nur Hohn auslösen kann. In den besetzten Gebieten der Westbank kämpft diese Armee einerseits gegen Terrorismus, verübt andererseits auch Verbrechen. In ein, zwei Generationen, so die junge Frau in dieser Szene, wird vielleicht gefragt werden: „Wie konntet ihr nur?“ Noch ist es allerdings nicht so weit, noch ist die israelische Gesellschaft zu zerrissen, um zu einem wirklichen Frieden mit den Palästinensern zu gelangen, vielleicht zum Teil auch im Verfall befindlich, nicht zuletzt moralisch, wie Amos Gitai durch die Wahl der Location anzudeuten scheint. Wie vielen seiner Landsleute Gitai mit dieser Analyse allerdings aus der Seele spricht, mag man aus der Ferne, gerade aus Deutschland, nicht beurteilen. Wie ein Spiegel der unterschiedlichen Positionen innerhalb der israelischen Gesellschaft wirkt Amos Gitais „Shikun“, ein experimenteller Film, der oft so rätselhaft erscheint wie Israel und der Nahe Osten insgesamt.

 

Michael Meyns