Siberia

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Wirklich einfach hat es Abel Ferrara seinem Publikum selten gemacht, in seinem neuen Film „Siberia“, der im Wettbewerb der Berlinale seine Weltpremiere erlebte, macht er es ihm allerdings besonders schwer. Willem Dafoe spielt darin einen Mann auf der Suche nach sich selbst. Eine Suche, die ihn auf eine äußere wie auf eine innere Reise führt, wobei die Grenzen fließend sind.

Website: port-prince.de

Italien/ Deutschland/ Mexiko
Regie & Buch: Abel Ferrara
Darsteller: Willem Dafoe, Dounia Sichov, Simon McBurney, Cristina Chiriac, Valentina Rozumenko, Daniel Giménez Cacho, Phil Neilson
Länge: 92 Minuten
Verleih: Port au Prince, Vertrieb: 24Bilder
Kinostart: 2.7.2020

FILMKRITIK:

Seit Jahren dreht Abel Ferrara besonders gern mit Willem Dafoe zusammen, etliche Filme hat das Duo inzwischen gemeinsam gedreht, auch privat sind sie befreundet, leben nicht weit voneinander entfernt in Rom. Nach der gemeinsamen Arbeit an „Pasolini“ hatte Ferrara die Idee zu einem Film über einen Mann, der in der Wildnis der Natur und seines Unterbewusstseins nach sich selbst sucht. Doch die Finanzierung gestaltete sich schwierig, jahrelang musste er das Projekt zurückstellen.

Stattdessen drehte Ferrara Dokumentationen, letztes Jahr dann wieder einen Spielfilm, den in seinen Mitteln aber nicht seinen Ambitionen beschränkten „Tommaso und der Tanz der Geister“, der gerade noch in den deutschen Kinos läuft. Dafoe spielte darin einen Regisseur, der unverkennbar ein Alter Ego Ferraras war und träumte davon, ein Projekt namens Siberia“ zu drehen, bekam es jedoch nicht finanziert. Als „Tommaso“ letztes Jahr in Cannes lief, hatte sich das schon geändert, war „Siberia“ abgedreht und führt nun die Zusammenarbeit zwischen Dafoe und Ferrara zu neuen, surrealen Höhen.

Dafoe spielt Clint, einen Einsiedler, der in einer Hütte am Berg, in irgendeiner schneebedeckten Wildnis lebt und eine Art Bar betreibt. Nur selten kommen Besucher, mal sind es Inuits, mal Trapper, mal eine schwangere Russin, die Dafoe ihrer nackten vollen Bauch darbietet, mal auch ein Bär, der Clint zu reißen versucht.

Anscheinend ist dies aber schon ein Blick in Clints Unterbewusstsein, in dem – vermutlich – weite Teile des Films spielen. Spätestens wenn Clint in den Keller geht und einen Tunnel durchschreitet, der auch angesichts der nackten Frauen, die sich in ihm aufhalten, wohl als Geburtstunnel zu begreifen ist, nimmt das Geschehen surreale Züge an.

Anfangs scheint die Reise Clint noch durch die reale Welt zu führen, Schlittenhunde ziehen ihn durch eine Schneelandschaft, die bald einer Wüste weicht, ebenso abrupt wie viele andere Zeit- und Ortsprünge. Auf seiner Reise in innere und äußere Landschaften begegnet Clint Gestalten aus seiner Vergangenheit, einer Ex-Frau, die er offenbar im Streit verlassen hat, seinem eigenen kindlichen Ich, aber auch seiner Mutter und seinem Vater, der von Dafoe selbst gespielt wird.

Wenige Minuten kurz sind die einzelnen Segmente, in denen oft auch Schamanen und Magier auftauchen, die so weise Ratschläge erteilen wie: „Vernunft ist überbewertet“ oder „Respektiere die Gegenwart des Schlafes“, Sätze, die so kryptisch sind, dass sie in jede erdenkliche Richtung interpretierbar sind. Eindeutigen Sinn sollte man hier nicht erwarten, stattdessen eine visuell oft eindrucksvolle, sicherlich auch autobiographische filmische Psychoanalyse.

So wie Ferrara in „Tommaso“ seine eigenen Obsessionen und Süchte thematisierte, bedient er sich auch hier des ausdrucksstarken Gesichts Willem Dafoes, um von einem Mann zu erzählen, der mit den Anforderungen an seine Männlichkeit kämpft. Wie man das von Ferrara leider gewohnt ist, bedeutet das auch viel zu viele nackte Frauen, die Clints Weg bereitwillig säumen. Sieht man das einem über 70jährigen Regisseur nach, kann man sich auf eine sehr seltsame Reise in das Unterbewusste eines Mannes begeben, der am Ende wieder am Anfang ankommt – aber doch gereift ist.

Michael Meyns