„Die ganze Welt ist eine Bühne“ – Greg Kwedars Gefängnis-Drama bezieht sich auf das bekannte Shakespeare-Zitat aus „Hamlet“ und erzählt eine überraschende, sehr berührende Geschichte, in der die Bühne zum Ausweg aus einer schwer erträglichen Welt wird. Denn die Bühne, um die es in „Sing Sing“ geht, steht im umgeräumten Speisesaal des legendären New Yorker Gefängnisses. Es geht um Freundschaft, Freiheit und Kunst in einer Theatertruppe – aber was diesen von anderen Knastfilmen unterscheidet, ist seine kompromisslose Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit.
Webseite: https://weltkino.de/filme/sing-sing
USA 2023
Regie: Greg Kwedar
Drehbuch: Clint Bentley, Greg Kwedar
Mitwirkende: Colman Domingo, Clarence Maclin, Paul Raci, Sean San José
Kamera: Pat Scola
Musik: Bryce Dressner
Länge 104 Minuten
Verleih: Weltkino
Start: 27. Februar 2025
FILMKRITIK:
John Whitfield sitzt seit vielen Jahren unschuldig im Gefängnis. Er wurde für einen Mord verurteilt, den er nicht begangen hat. Im Knast hat er sich einer Theatergruppe angeschlossen, die alle sechs Monate ein Stück aufführt. John ist der Star der Truppe, er spielt, schreibt Stücke und wirkt bei allen wichtigen Entscheidungen mit. Doch ein Newcomer, der schauspielerisch begabte Gangster „Divine Eye“ stellt diese gewachsenen und bewährten Strukturen in Frage und sorgt dafür, dass statt des vorgesehenen Dramas eine wilde, anarchische Zeitreise-Komödie auf die Bühne gebracht wird. Während der Proben muss John vor einem Ausschuss aussagen, der über seine vorzeitige Begnadigung entscheidet. Als dessen Mitglieder sich nicht sicher sind, ob sie nicht „Opfer“ von Johns großen schauspielerischen Fähigkeiten werden, bricht für ihn eine Welt zusammen …
Die Geschichte, die in „Sing Sing“ erzählt wird, beruht auf Tatsachen. Dass RTA-Programm (RTA steht für „Rehabilitation through the Arts“, also Rehabilitation durch Kunst) wird seit vielen Jahren erfolgreich in amerikanischen Haftanstalten durchgeführt. Wie erfolgreich das Programm ist, sieht man auch daran, dass beinahe jedes Mitglied der „Sing Sing“-Theatertruppe von einem ehemaligen Häftling gespielt wird, der an dem RTA-Programm teilgenommen hat. Dabei entpuppt sich Clarence Maclin als „Divine Eye“ geradezu als schauspielerische Sensation. Mit einer ganz eigenen Mischung aus Kraft, Wut und Verletzlichkeit schafft er es, dem erfahrenen Colman Domingo als John Paroli zu bieten. Die Szenen zwischen den Beiden besitzen nicht nur eine starke Intensität, sondern zeugen von einem tiefen grundsätzlichen Verständnis für Schauspielkunst und Menschlichkeit.
Auch die Kameraarbeit trägt einen großen Teil zur starken Authentizität des Films bei. Pat Scola hat auf 16 mm-Material bei meist natürlichem Licht gedreht. Oft wurde die Kamera mit der Hand geführt, auch GoPros kamen zum Einsatz, die oft für Sportaufnahmen, auch im Amateurbereich, verwendet werden. Oft hat man das Gefühl, unmittelbar auf der Probebühne mit dabei zu sein, wozu auch die zahlreichen Nahaufnahmen beitragen.
Es wäre für Regisseur Greg Kwedar ein Leichtes gewesen, die bekannten Mainstream-Klischees des Knast- und Showbusiness-Films über die Konkurrenz zweier Schauspieler zu bedienen und ein ranschmeißerisches Feelgood-Movie zu drehen. Kwedar hat genau das Gegenteil getan: Er interessiert sich nicht für den oberflächlichen, durch Eitelkeit ausgelösten Konflikt, er erforscht die Mechanismen, die in Menschen ablaufen, die sich mit Kunst beschäftigen und künstlerisch tätig sind. Die Szenen, in denen die Schauspieler proben, sich selbst und ihre Rollen erforschen und versuchen, ihr Stück und die Welt zu verstehen, sind lang, aber niemals langweilig. „Wir sind hier, um wieder menschlich zu werden“, sagt einer der Darsteller einmal, und man hält bei diesem Satz unwillkürlich den Atem an. Diese Worte bringen nicht nur das Thema des Films auf den Punkt, sie beinhalten auch eine einfache, fundamentale Wahrheit über die darstellenden Künste, das Theater und den Film.
Mit jeder der 104 kurzweiligen Minuten, die dieser Film dauert, wächst die Zuneigung zu den Personen und zum Film insgesamt. „Sing Sing“ erzählt nicht nur ganz wunderbar die Geschichte einer auf leisen Sohlen daherkommenden Männerfreundschaft, sondern bringt das Publikum auf selbstverständliche Weise dazu, selbst zu reflektieren: nicht nur über den Film und die Werte, die er vertritt, sondern auch über die Welt, die Kunst und sich selbst. „Sing Sing“ ist beinahe so etwas wie ein kleines Wunder, aber gleichzeitig ganz großes Kino.
Gaby Sikorski