Sorry we missed you

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Einen Film als kaum zu ertragen zu beschreiben, ist meist keine Empfehlung. Ganz anders im Fall der jüngsten Ken Loach-Filme, die so schonungslos die wirtschaftliche Realität der Arbeiterklasse sezieren, dass sie, ja, kaum zu ertragen und gerade deswegen so gut sind. Zwar beschreibt „Sorry we missed you“ das Schicksal eines Paketboten in England, doch die Universalität des Geschilderten macht diesen Loach-Film auch in Deutschland unbedingt sehenswert.

Webseite: nfp-md.de

Großbritannien 2019
Regie: Ken Loach
Buch: Paul Laverty
Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster, Mark Birch
Länge: 100 Minuten
Verleih: NFP/Filmwelt
Kinostart: 14. November 2019

FILMKRITIK:

So wie „I, Daniel Blake“, für den Loach vor einigen Jahren zum zweiten Mal mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, spielt auch „Sorry we missed you“ in der nordenglischen Stadt Newcastle. Hier versucht die Familie Turner sich über Wasser zu halten, sich gegen das Unweigerliche zu stemmen. Einst bewohnten sie ein eigenes Haus, doch nach der Finanzkrise 2008 mussten sie es verkaufen und wohnen nur noch zur Miete. Während die Mutter Abbie (Debbie Honeywood) einen relativ festen Job als mobile Krankenschwester hat, schlägt sich ihr Mann Ricky (Kris Hitchen) von Aushilfsjob zu Aushilfsjob durch. Zwar war er nie wirklich arbeitslos, doch das Geld reicht dennoch vorne und hinten nicht.
 
Doch nun scheint sich sein Los zu wenden: Er bekommt einen Job beim Paketdienst PDF (Parcels delivered fast - Pakete schnell geliefert), jedoch nicht als Festangestellter, sondern als Selbstständiger. Und das bedeutet, dass er sich täglich einen Lieferwagen mieten muss, auf Zeit arbeitet und für jede verspätete Lieferung Strafe zahlen muss. Um die Situation zu verbessern, überredet Ricky Abbie, ihr kleines Auto zu verkaufen, damit er sich einen eigenen Lieferwagen kaufen kann. Doch was als Beginn einer erfolgreichen Selbstständigkeit gedacht war, erweist sich rasch als Anfang vom Ende jeder Hoffnung.
 
Schon immer (und das ist in diesem Fall eine Karriere, die bis in die 60er Jahre zurückreicht) war Ken Loach ein Regisseur des kleinen Mannes. Wie so viele andere britische Filmemacher, die dem Sozialrealismus verschrieben waren, beschrieb auch Loach das Leben der Arbeiterklasse, hatte Sympathien für all die Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen und auch vom Kino meist ignoriert werden. Bis vor einigen Jahren waren seine Filme dabei meist von einer sentimentalen Note geprägt, ließen seine Figuren zwar schwere Zeiten durchleben, die am Ende aber doch hoffnungsvoll endeten. Doch jetzt, da Loach schon über 80 Jahre alt ist, ist von Sentimentalität, von Hoffnung praktisch keine Spur mehr.
 
„I, Daniel Blake“ endete mit dem Herzinfarkt der Titelfigur, die vorher 90 Minuten versucht hatte, den Fallstricken der Bürokratie etwas entgegen zu setzen. Ähnlich geht Loach auch in „Sorry we missed you“ vor, stellt seinen Figuren Hiob gleich, ein Hindernis nach dem anderen in den Weg und ist gerade dadurch so hart, gesellschaftskritisch und vor allem realistisch wie nie zuvor.
 
Mit größter Genauigkeit beschreibt Loach die Strukturen der modernen Gig Economy, bei der Arbeitnehmern die Vorzüge der Selbstständigkeit vorgegaukelt werden, die jedoch in Wirklichkeit zu einer Reduzierung von Sozialstandards und Arbeiterrechten führt. Im neoliberalen Streben nach ständiger Optimierung und Einsparung, werden alle Mittel angewandt, um Arbeitnehmer zu benachteiligen: Die mobile Krankenschwester Abbie wird etwa nicht nach Stunden bezahlt, sondern pro Patienten. Die Fahrzeiten dazwischen sind somit nicht entlohnt, das Zeitfenster für jede Patientin wird dazu immer kleiner, die Erwartungen dennoch immer größer. Dass das nicht ewig so weitergehen kann, das den Einsparmöglichkeiten Grenzen gesetzt sind, wird immer deutlicher.
 
Und genau das zeigt Loach in schonungsloser Manier auf, lässt die Familie immer weiter in die Krise schlittern, nicht sprunghaft, sondern Stück für Stück. Rickys Jähzorn wird immer stärker, die Arbeitszeiten der Eltern immer länger, so dass zudem die beiden Kinder immer mehr vernachlässigt werden. Schuld an dem Übel ist jedoch kaum jemand Bestimmtes, selbst Rickys Chef beim Paketdienst ist selbst nur der Angestellte von höher gestellten Chefs, selbst nur Teil eines Systems, das im Streben nach Gewinnmaximierung längst die Menschlichkeit verloren hat.
 
Schauplatz von „Sorry we missed you“ mag dabei zwar England sein, doch die Strukturen, die Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty ebenso schonungslos wie brillant aufzeigen, kann man in ganz Europa finden, in allen Ländern, in denen Sozialsysteme zunehmend schwächer werden, Profitdenken längst alles überstrahlender Raison d'être geworden ist.
 
Michael Meyns