Trau Fremden nicht bedingungslos über den Weg, auch dann nicht, wenn du mit ihnen einen schönen Urlaub verbracht hast! Zu dieser Erkenntnis gelangt im dänischen Psychothriller „Speak No Evil“ (2022) das Ehepaar Bjørn und Louise leider viel zu spät. Ihr Besuch bei den Niederländern Patrick und Karin, die sie bei einem Aufenthalt in der Toskana kennengelernt haben, entpuppt sich als denkbar schlechte Entscheidung. Christian Tafdrups mit kleinen Irritationen beginnender, sich langsam steigender Albtraum erregte international einiges Aufsehen – und scheint nachhaltigen Eindruck auf US-Horrorspezialist Jason Blum gemacht zu haben. Nur zwei Jahre nach Veröffentlichung des Ursprungswerk bringt der in Hollywood für verhältnismäßig kostengünstig gefertigte Schocker bekannte Produzent ein Remake an den Start. Der von James Watkins geschriebene und inszenierte Film erlaubt sich einige krasse Änderungen im letzten Drittel, funktioniert – besonders für Nichtkenner des Originals – aber dennoch als nervenaufreibender Spannungsstreifen mit satirischen Spitzen.
Originaltitel: Speak No Evil
USA 2024
Regie: James Watkins
Drehbuch: James Watkins
Cast: James McAvoy, Mackenzie Davis, Scoot McNairy, Aisling Franciosi, Alix West Lefler, Dan Hough, Kris Hitchen, Motaz Malhees u. a.
Länge: 110 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Verleih/Vertrieb: Universal Pictures Germany
Website: https://www.upig.de/micro/speak-no-evil
Kinostart: 19. September 2024
FILMKRITIK:
Am Pool einer idyllisch gelegenen Urlaubsanlage in der Toskana lassen die in London lebenden US-Amerikaner Ben (Scoot McNairy) und Louise (Mackenzie Davis) mit ihrer Tochter Agnes (Alix West Lefler) die Seele baumeln. Eben dort kommt es zu einer ersten Begegnung mit dem Briten Paddy (James McAvoy), der sich eine Liege ausborgt und anschließend mit einer satten Arschbombe ins kühle Nass springt. Er, seine Frau Ciara (Aisling Franciosi) und ihr gemeinsamer Sohn Ant (Dan Hough) verbringen in dem pittoresken Hotel ebenfalls ihre Ferien. Bei einer Stadtbesichtigung kommen die beiden Familien ins Gespräch, essen zusammen und machen sich über ein paar anstrengende dänische Touristen (ein erster Verweis auf die Vorlage) lustig. Obwohl sie vom Temperament her völlig unterschiedlich sind, verstehen sich die Paare fortan prächtig.
Zurück in London erhalten Ben und Louise irgendwann eine Einladung von Paddy und Ciara. Nach kurzem Zögern – man kennt sich schließlich nicht sehr gut – sagen sie zu und machen sich mit Agnes auf den Weg in die südenglische Provinz, wo ihre Urlaubsbekanntschaften in einem versteckt liegenden, urigen Landhaus wohnen. Die Begrüßung fällt noch herzlich aus. Wenig später gibt es allerdings die ersten Verwirrungen. Warum etwa drängt Paddy Louise ein Stück Fleisch auf, wo sie sich in der Toskana doch als Vegetarierin geoutet hat? Und warum springt der Gastgeber seltsam rüde mit seinem Sohn um, der wegen einer zu kurzen Zunge nicht sprechen kann? Etwas Unheilvolles liegt in der Luft. Die Besucher aber schlucken ihre Verwunderung erst einmal herunter.
„Speak No Evil“ ist einer dieser Filme, die den Zuschauer ständig fragen: Was würdest du tun? Sollte man in einer Situation wie dieser kleine Übergriffigkeiten weglächeln, die Faust in der Tasche ballen? Oder lieber den Mund aufmachen? Wann genau ist der Punkt erreicht, an dem man seine Höflichkeit, seine zivilisatorische Haltung aufgeben sollte? An dem es eigentlich nur noch eine Lösung gibt: Abreisen! Ähnlich wie im dänischen Original ist es vor allem der Mann, der die Zähne nicht auseinanderkriegt, der Hemmungen hat, unpassendes Gebaren offen anzusprechen. In Christian Tafdrups Version hadert Bjørn mit seinem einengenden bürgerlichen Leben, dem Spontanität und Abenteuer gänzlich fremd sind. Fast schon bewundernd schaut er zum impulsiven Patrick auf, der sich nicht in Muster pressen lässt. Das Remake arbeitet die Unzufriedenheit Bens stärker heraus, ist im Vergleich plakativer. Denn nicht nur hat er kürzlich seinen Job verloren, für den er aus den USA nach London kam. Auch in seiner Beziehung kriselt es nach einem Vertrauensbruch durch seine Ehefrau. Gerade diesen Punkt greift Paddy gezielt auf, wenn er versucht, das wilde Tier in Ben hervor zu kitzeln. Virilität gegen Angepasstheit und Zurückhaltung – immer wieder geht es um diesen Gegensatz.
Den Spuren des beklemmenden Ursprungsfilms oft recht akkurat folgend, verwandelt die Neuinterpretation aus Hollywood das diffuse Unbehagen mehr und mehr in ein Gefühl der Bedrohung. Mit James McAvoy haben die Macher genau den richtigen Darsteller für die Rolle des vor Energie und Tatendrang nur so berstenden Paddys engagiert. Der Wahnsinn mag in seinen Augen und in seinem breiten Lächeln schon sehr früh aufblitzen. Dennoch verleiht sein ungehemmtes, raumgreifendes Spiel dem Geschehen oft eine enorme Wucht. Aus dem insgesamt überzeugenden Ensemble sticht zudem Mackenzie Davis heraus, die mit Blicken und kleinen mimischen Veränderungen Louises wachsendes Unwohlsein zum Ausdruck bringt. Eine gute Figur gibt sie nicht zuletzt im Schlussdrittel ab.
Apropos Finale: Daran werden sich wahrscheinlich die Geister scheiden. Vor allem, wenn man den kompakten, niederschmetternden Showdown aus „Speak No Evil“ anno 2022 im Hinterkopf hat. Manch kritische Frage, was das seltsame Verhalten der Charaktere anbelangt, fällt beim neuen Ende weg. James Watkins demonstriert, dass er – wie bei seinem Schocker „Eden Lake“ (2008) – ein Katz-und-Maus-Spiel mit der nötigen Intensität inszenieren kann. Etwas schade ist es aber schon, dass seine Variante Angst vor der eigenen Courage hat, den Weg geht, den man von einem US-Remake erwartet.
Christopher Diekhaus