Stell dir vor, du müsstest fliehen

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Was wäre, wenn wir Europäer ganz unmittelbar von Krieg und Vertreibung betroffen wären? Wenn wir uns selbst, von heute auf morgen, in eine unsichere Zukunft begeben und die Heimat verlassen müssten? Das emotional mitreißende Flüchtlingsdrama „Stell dir vor, du müsstest fliehen“ stellt all diese hoch interessanten und schwierig zu beantwortenden Fragen. Die schwedische Produktion ist nicht frei von Schwächen und die fehlenden Hintergründe erschweren eine inhaltliche Einordnung zuweilen. Durch zwei ebenso mutige wie unkonventionelle Perspektivverschiebungen, gelingt jedoch eine neue Sichtweise auf ein mediales Dauerthema.

Webseite: www.cineglobal.de

Schweden 2018
Regie & Drehbuch: Jesper Ganslandt
Darsteller: Jesper Ganslandt, Hunter Ganslandt, Christopher Wagelin, Anna Littorin, Ella Wagelin
Länge: 91 Minuten
Kinostart: 07.03.2019
Verleih: Cine Global

FILMKRITIK:

Ein in ihrer Heimat Schweden ausgebrochener Bürgerkrieg zwingt den vierjährigen Jimmie (Hunter Ganslandt) und seinen Vater (Jesper Ganslandt) zur Flucht. Von der Mutter bzw. Ehefrau fehlt jede Spur, deshalb sind die Zwei auf sich alleine gestellt. Ihre Reise führt sie übers Meer, an Bahngleisen entlang, vorbei an zerfallenen Industrieanlagen und durch riesige Felder. Auf der Flucht Richtung Süden treffen sie auf viele andere Menschen, die dasselbe Ziel haben wie sie. Furcht, Wahnsinn und Desorientierung sind ein ständiger Begleiter. Als sich Jimmie und sein Vater eines Tages aus den Augen verlieren, drohen neue Gefahren. Doch Jimmie gelangt in die Obhut einer sich ebenfalls auf der Flucht befindlichen Familie, die sich um ihn kümmert.

Für umgerechnet nicht einmal zwei Millionen Euro drehte der schwedische Regisseur und Schauspieler Jesper Ganslandt sein Indie-Drama. Die im Film nicht zu übersehende Nähe, die zwischen Vater und Sohn herrscht, lässt sich leicht erklären: Ganslandt besetzte seinen eigenen Sohn in der Rolle des Jimmie. „Stell dir vor, du müsstest fliehen“ ist Ganslandt erste Regiearbeit seit dem Drama „Blondie“, einem der Publikumslieblinge bei den Filmfestspielen in Venedig 2012.

„Stell dir vor, du müsstest fliehen“ ist geprägt von einem spannenden Perspektivwechsel, und zwar gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen verlagert Ganslandt seine Fluchtgeschichte nach Nordeuropa und konfrontiert den Kinobesucher auf diese Weise geschickt mit einer ganz entscheidenden Frage: Was wäre eigentlich, wenn wir, die Bewohner des vermeintlich sicheren und wohlhabenden Europa, zur Flucht gezwungen wären? Wenn allgegenwärtige Todesangst unser ständiger Begleiter wäre und sich Aufstände, Hungersnöte sowie Chaos vor unserer eigenen Haustüre abspielen würden? Und eben nicht in weit entfernten Ländern wie Syrien, dem Jemen oder Irak.

Auf diese Weise sorgt Ganslandt durch sein mit Handkamera gefilmtes Werk für eine völlig neue Sichtweise auf ein medial nach wie omnipräsentes Thema. Doch bleibt es eben nicht der einzige Perspektivwechsel. Denn der Schwede schildert seine Erzählung ebenso konsequent aus der Sicht von Jimmie, eines kleinen Jungen also, der die Geschehnisse um sich herum freilich nur bedingt begreifen kann und mit der Gesamtsituation überfordert ist. Die Verwirrung und Nervosität Jimmies manifestieren sich unter anderem in den verwackelten Bildern und der Tatsache, dass man sehr oft ausschließlich Jimmies Gesicht in Großaufnahme sieht. Der Hintergrund bleibt verschwommen und undeutlich, die Szenerie unklar. In diesen Momenten empfinden der Zuschauer und Jimmie ähnlich: Sie können die Zusammenhänge nur schwer einordnen und haben keine Ahnung, wo sie sind.

Der fehlende Kontext macht es dem Betrachter allerdings auch nicht immer leicht. Viele Fragen bleiben offen, die Einordnung der Geschehnisse ist eine Herausforderung und das Ende lässt Raum für allerlei Spekulationen. Hinzu kommt ein allzu oft ins Spirituelle abdriftender, philosophisch gefärbter Off-Kommentar von Ganslandt, der die beiden Erzählstränge (die Flucht sowie Jimmies Leben bei der fremden Familie) gewissermaßen zusammenhält. Die mit leiser, extrem ruhiger Stimme vorgetragenen Sätze erinnern in ihrer mystischen Überhöhung und der sanften Darbietung nicht selten an die meditative und entschleunigte Atmosphäre in Filmen von Terrence Malick. Das ist natürlich Geschmackssache, aber die Frage ist vielmehr, ob dies der dramatischen, ernsten Thematik des Films angemessen ist.

Björn Schneider