Stories We Tell

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Auf den ersten Blick eine Dokumentation über ihre Familie, erweist sich Sarah Polleys „Stories We Tell“ als Meditation über Erinnerungen, subjektive Wahrnehmung und das Erzählen von Geschichten. Zusammengestellt aus Interviews mit Verwandten und Freunden, echten und falschen Archivaufnahmen entwickelt die kanadische Schauspielerin und Regisseurin einen faszinierenden Film, der gleichermaßen persönlich wie universell ist.

Webseite: www.fugu-films.de

Kanada 2012 - Dokumentation
Regie, Buch: Sarah Polley
Länge: 108 Minuten
Verleih: Fugu Filmverleih
Kinostart: 27. März 2014

FILMKRITIK:

Bekannt wurde Sarah Polley als Schauspielerin in Filmen wie „eXistenZ“, „Go“ oder „Das geheime Leben der Wörter“ und legte mit „Away from her“ ein viel beachtetes Regiedebüt vor. Ihr neuer Film „Stories We Tell“ begann eher harmlos, als Film über ihre Familie, ihre Geschwister und vor allem die Eltern Michael und Diane Polley, die ebenfalls Schauspieler sind bzw. waren. Denn Sarahs Mutter ist schon vor Jahren gestorben und nahm ein Geheimnis mit ins Grab, das Sarah nun entlarvt.
Geht es in den Erinnerungen der Interviewpartner anfangs noch ganz allgemein um die Familie, das Aufwachsen, Gedanken an die Eltern und besonders die Mutter, kommt das Gespräch zunehmend auf Sarah zu sprechen. Als junges Mädchen wurde sie bisweilen damit aufgezogen, ihrem Vater nicht ähnlich zu sehen, doch niemand dachte sich etwas dabei.

Mehr und mehr stellt sich jedoch heraus, dass die Ehe ihrer Eltern oft schwierig war, dass gerade ihre Mutter vor der Verantwortung, eine Familie zu haben, zurückwich – und bei Gastspielen am Theater Affären hatte. So kommt bald der Verdacht auf, dass Sarahs Vater gar nicht ihr richtiger Vater ist, zumindest nicht ihr biologischer.

Anfangs sagt Sarah Polleys Schwester noch „Wer soll sich denn für unsere Familie“ interessieren?“ Auf den ersten Blick keine unberechtigte Frage, denn eigentlich wirken die Polleys ganz normal und eher durchschnittlich. Sarah und ihre Eltern sind zwar Schauspieler, aber keine weltberühmten Stars und auch sonst sind die bloßen Fakten der Familie Polley wenig interessant. Doch was Sarah Polley mit ihrem essayistischen Dokumentarfilm versucht, geht auch viel weiter als einfach nur einen Film über ihre Familie zu drehen.
Nicht umsonst bezeichnet sie im Abspann alle Teilnehmenden Familienmitglieder und Freunde als Storytellers, als Geschichtenerzähler. Ganz bewusst lässt sie Widersprüche im Raum stehen, schneidet etwa Aussagen gegeneinander, die ihre Mutter mal als offen dann als verschlossen bezeichnen und betont damit die Subjektivität der Erinnerung. Unterstützt wird dies durch die zahlreichen Super-8 Aufnahmen, die teilweise echt sind, teilweise auch neu gedreht wurden und nur den Eindruck von Authentizität erwecken sollen.

Sich selbst hält Sarah Polleys Anfangs im Hintergrund, tritt nur gelegentlich als Interviewerin in Erscheinung, doch schon diese Momente deutet die große Ambition an: Viele Momente, in denen ihre Geschwister oder ihr Vater direkt Polley ansprechen, wären in gewöhnlichen Dokumentarfilmen als Bruch der vierten Wand herausgeschnitten worden. Hier bleiben sie ganz bewusst Teil des Films und tragen dazu bei, anzudeuten, dass auch dieser Versuch eine objektive Geschichte zu erzählen, letztlich allein die Geschichte der quasi Haupterzählerin bleibt. Und das ist in diesem Fall Sarah Polley, die als Regisseurin entscheidet, was im Film bleibt und was nicht. So gelingt es Polley aus einer sehr persönlichen Geschichte, die tatsächlich für Außenstehende eher uninteressant wäre, einen Film zu machen, der auf unprätentiöse Weise viele Fragen anreißt: Über die Subjektivität der Erinnerung, komplizierte Familienstrukturen und vor allem das Erzählen von Geschichten.

Michael Meyns