Symphony of Now

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Berlin ist absolut angesagt – das hat sich inzwischen nicht nur in der gesamten Welt, sondern auch in ganz Deutschland und sogar in Berlin selbst herumgesprochen. Junge Menschen von allüberall strömen in die Stadt, prägen das Bild und sorgen für jede Menge neuen Schwung und eine ganz besondere Atmosphäre. Angelehnt an den Klassiker „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“ setzt Johannes Schaff diesem neuen, jungen Berlin ein kleines Filmdenkmal, das visuell ebenfalls experimentell gestaltet ist und darüber hinaus einen interessanten elektronischen Soundtrack präsentiert. Die intelligent gemachte, filmische und musikalische Liebeserklärung an Berlin wendet sich offenkundig an ein eher jüngeres Publikum und ist ein milde avantgardistischer, auf jeden Fall künstlerisch ambitionierter Beitrag für Berlinfans, die Electrosound und Technoklänge schätzen.

Webseite: www.nfp-md.de

Dokumentarfilm
Deutschland 2018
Buch und Regie: Johannes Schaff
Mit Musik von Modeselektor, Gudrun Gut & Thomas Fehlmann, Hans-Joachim Roedelius, Samon Kawamura, Alex.Do
65 Minuten
Verleih: NFP
Kinostart: 12.07.2018

FILMKRITIK:

Diesmal also die Sinfonie einer Großstadt mit Elektro-Sound. Eigentlich naheliegend, sollte man meinen, denn seit Walter Ruttmanns legendärer Dokumentation ist nicht nur der Tonfilm erfunden worden, sondern es gab eine Reihe von Nachfolgefilmen, die zu unterschiedlichen Zeiten den Zustand und Wandel Berlins zeigen. Und Berlin hat sich mächtig geändert! Die Paul-Lincke-Ära mit der „Berliner Luft“ ist wohl endgültig Vergangenheit. – Wobei „Bis früh um fünfe, kleine Maus“ möglicherweise noch ziehen könnte. Doch nicht nur der Musikstil unterliegt dem Zeitenwandel, auch die Bildsprache. Johannes Schaff wollte offenbar mehr, als lediglich den nächsten Film zu schaffen, der sich in die Reihe der Berliner Sinfoniefilme fügt, denn er hat sich zunächst mal auf ziemlich pfiffige Weise von dem berühmten Vorgänger inspirieren lassen. Die moderne Umsetzung des seinerzeit übrigens umstrittenen Films musste selbstverständlich mit moderner Musik erfolgen. Der Takt der Stadt hat sich geändert – so wie sich die Welt, das Land, die Menschen, ihr Leben und die Mode geändert haben. Berlin am Tag ist eine Großstadt wie viele, aber Berlin in der Nacht hat einen besonderen Zauber, der junge Leute aus der ganzen Welt anlockt und der sich vermutlich Menschen über 40 nicht oder nur selten erschließt. So ähnlich wie im heutigen Berlin war es vielleicht im London der 60er Jahre oder in New York zwischen 1975 und 1990, was die Atmosphäre betrifft. Von diesem hyper-nachtaktiven Berlin handelt Johannes Schaffs Film vor allem anderen – und von den Menschen, die erst richtig zu leben beginnen, wenn andere schlafen.
 
Die Dampflok, die bei Walter Ruttmann zu Beginn nach Berlin fährt, gibt es auch bei Johannes Schaff, und den Tagesbeginn in der Großstadt. Doch dann wird’s ganz schnell ganz besonders, auch wenn wieder 24 Stunden Berlin gezeigt werden, mit alten und neuen Stadtansichten, schnellen Schnitten, dazu gibt es wirkungsvolle, eindringliche Elektroklänge. Der Soundtrack entstand nach dem Stummfilm – die modernen Bilder wurden nachträglich eingefügt. Das ist selbst für den Kenner schwer zu erkennen, aber es ist als Konzept eine schöne Würdigung des Vorgängers. Bei Ruttmann waren Maschinen und arbeitende Menschen ein zentrales Thema. So wie sich vor 90 Jahren die ganze Welt für den technischen Fortschritt begeisterte, war das mehr als logisch. Davon ist nichts mehr übrig, die Zeiten haben sich geändert, aus Technik wurde Techno, der Lebensrhythmus und der musikalische Rhythmus haben stets einen engen Bezug zur Zeit und zum Tagesablauf. Johannes Schaff gliedert seine moderne Symphonie wie ein Orchesterwerk in unterschiedlich gestaltete musikalische Parts zu den unterschiedlichen Tageszeiten und widmet sich in seinen Bildern vor allem den Menschen. Letztlich geht es ihm offenbar um Hedonismus, der sich – ganz und gar unberlinerisch für alle, die älter sind als Thirtysomething – in Genuss, Kreativität und Lebensfreude vereint. Der Tag wird bei Schaff zur Vorbereitung auf die Nacht, wenn das wahre Leben stattfindet. Die ganze Stadt scheint sich für den Abend zu präparieren. Locations sind zu sehen, im Reinigungslicht oder bei Tag – Theater, Kinos, Restaurants, Bars, Clubs … allesamt leer. Sie warten auf die Kinder der Nacht. Die modernen Lebenskünstler treffen sich in Berlin, an den Weihestätten und Altären der Postpostpost-Moderne, in den Clubs, drinnen und draußen an diesem Sommertag und in dieser heißen Nacht. So stehen bei Johannes Schaff, neben einigen kleinen persönlichen Erinnerungen, die dem Ganzen noch einen kleinen Extra-Pfiff geben, sowohl visuell als auch musikalisch die Nachtmenschen und -schwärmer im Vordergrund, die Kreativen und die nimmermüden fleißigen Geister, die man im Dunkeln nicht sieht und die sonst zu kurz kommen, und mit ihnen die Orte, wo sie sich aufhalten. Ähnlich wie Ruttmann verzichtet auch Schaff auf eine klare narrative Struktur, lediglich ihre Chronologie hält die Bilder zusammen. Die kurzen, flashartigen Einstellungen, Bauten, Menschen, bekannte und unbekannte Ausblicke schaffen ein eigenes Tempo. Zusammen mit der Musik ergibt sich irgendwann eine Mischung aus Ruhelosigkeit und Entspannung, nur auf den ersten Blick ein Gegensatz. Ekstase, Selbstvergessenheit … die merkwürdig überhitzte Atmosphäre der Nacht überträgt sich im Rhythmus der Elektroklänge – das hier sind Menschen, die sich amüsieren und verwirklichen wollen, und zwar so lange wie möglich und so stark wie möglich. Irgendwann wird es hell, ein neuer Tag bricht an in Berlin.
 
Johannes Schaffs filmische Liebeserklärung an Berlin hat tatsächlich eine Wirkung, die mit einer Symphonie vergleichbar ist. Sie besteht aus eindringlichen Bildern und Tönen, deren assoziative Kräfte gemeinsam wirken. Wer bereit ist, sich in diese Stimmung fallen zu lassen, wird sowohl den Film verstehen als auch die vielen Menschen, die es nach Berlin zieht.
 
Gaby Sikorski