The Tribe

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Der Debütfilm des ukrainischen Regisseurs Miroslav Slaboshpitsky ist inhaltlich schockierend und stilistisch meisterhaft: In einem Internat für Taubstumme wird der Neuzugang Sergej schnell in die kriminelle Gang aufgenommen, die alles kontrolliert und auch Mitschülerinnen prostituiert. Als er sich in eines der Mädchen verliebt und aus der Gang fliegt, ist seine Reaktion noch gewaltsamer als die schon schockierend unmenschliche Umgebung.

Webseite: rapideyemovies.de/the-tribe/

Regie: Miroslav Slaboshpitsky
Darsteller: Grigoriy Fesenko, Yana Novikova, Rosa Babiy
Länge: 132 Min.
FSK ab 16
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 15. Oktober 2015
 

FILMKRITIK:

Aus der Ferne registriert die Kamera eine schwierige Wegbeschreibung an einer befahrenen Straße mit ausgeschlachtetem Auto hinter einer Bushaltestelle. Genauso so heruntergekommen sieht die Schule aus, auf welcher der suchende Junge mit Rucksack und Koffer landet. Sergej (Grigoriy Fesenko) ist ein Neuzugang im Internat für Taubstumme, um den man keine Angst zu haben braucht. So wie er sich im brutalen Schulhofkampf gegen drei andere durchsetzt, verdient er sich direkt Respekt und wird aufgenommen. Nicht jedoch in eine der üblichen Cliquen, sondern direkt in eine geschmiert laufende Verbrecher-Organisation: Schmuggel, Diebstahl in den regionalen Zügen und auch Prostitution stehen hier auf dem Stundenplan. Dabei ähneln die kargen Räume eher Gefängniszellen als Internats-Zimmern. Dementsprechend auch die Betten und das sonstige Mobiliar. Trotz der Anzüge der Schüler eine raue Umgebung, in der das Lehrpersonal kaum zu sehen ist.
 
Das ist in der nüchternen Darstellung packend befremdlich, bis die Schraube von Härte und Gewalt das erste Mal anzieht. Schockierend, wie locker und selbstverständlich sich zwei Mädchen umziehen, um auf einem LKW-Parkplatz auf den Strich zu gehen. Dann prügeln die Jungs jemanden fast tot, um an dessen Einkaufstüten zu kommen und danach auf einem nächtlich verlassenen Kinderspielplatz zu saufen. Ein krasser Gegensatz.
 
Sergej betätigt sich bald auch als Zuhälter. Mit dem Problem, dass er sich in eines der Mädchen verliebt. Was Rauswurf aus der Gang und Degradierung in der Internats-Hierarchie zur Folge hat. Die Situation eskaliert, als die Mädchen nach Italien vermittelt werden sollen...
 
„The Tribe“ ist inhaltlich und formal ein sensationeller Film. Nicht nur „Uhrwerk Orange“ ohne reine Farben oder Chance auf Besserung. Nicht nur vergleichbar mit großen Werken von Haneke und Kieslowski. Das harte Jugend-Drama verläuft komplett in ukrainischer Zeichensprache, ohne Voice Over, ohne Untertitel. Was erstaunlicherweise keine Behinderung ist, es steigert die schon äußerst gespannte Aufmerksamkeit und schärft die Konzentration auf exquisite Filmkunst. Das Schweigen verstärkt zudem die Körperlichkeit der jungen Protagonisten, die unheimlich präsent von gehörlosen Laien gespielt wurden.
 
Still feiern Schüler und Lehrer bei Sergejs Ankunft - still auch für uns, weil die Tonspur abschaltet. In einer langen Plansequenz, so wie es Angelopoulos meisterlich vormachte, kommt der verspätete Schüler von hinten dazu. Sehr souverän bewegt sich die Kamera und nimmt an unerwarteter Stelle - oft mit Blicken von außen nach innen oder umgekehrt - die Handlung wieder auf. Immer wieder wechseln sich fast starre Einstellungen mit intensiven Steady Cam-Szenen ab. Dabei entstehen atemberaubende handwerkliche Leckerbissen wie eine lange, vermeintlich starre Einstellung, in der sich die Mädchen in einem Transporter für den Strich aufmachen. Dann stoppt der Wagen, die Kamera schwenkt ohne Schnitt mit den Mädchen nach vorne und plötzlich ist das Auto der Kamerawagen für eine Fahrt zwischen den Lastwagen zum Kunden des Zuhälters.
 
Nie jedoch ist der Stil ein Selbstzweck, er verbindet sich mit der selbstverständlichen Brutalität, der unmenschlichen, sinnlosen Härte im Osten Europas, bei der einem oft die Sprache wegbleibt. Die Abtreibung einer der prostituierten Schülerinnen bei einer Engelmacherin wird quälend in kompletter Länge gezeigt. Und auch das Finale werden viele als unerträglich hart beschreiben. Da drängt sich wieder der Vergleich zu Hanekes „Funny Games“ auf. Dazu herrscht eine schmutzige, herbstliche Farbgebung vor, die zusätzlich zur Kälte vom frühen Haneke an Kieslowski erinnert. Alles in allem eine packende und souveräne Bildästhetik einer heftigen, aber glaubhaft inszenierten Geschichte. Ein Spielfilm-Debüt, das begeistern muss. „The Tribe“ erhielt 2014 drei Auszeichnungen der Semaine de la Critique in Cannes und den Europäischen Filmpreis als „Europäische Entdeckung 2014“.
 
Günter H. Jekubzik