The Whale

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Ein Kammerspiel um einen extrem übergewichtigen Helden in tiefer Lebenskrise zum bewegenden Kinoereignis zu machen, dazu bedarf es schon eines Ausnahmeregisseurs wie Darren Aronofsky. Für „The Wrestler“ holte er einst den Löwen in Venedig. Für „Black Swan“ gab es eine Oscar-Nominierung. Unbedingt oscarreif gerät nun auch dieses Drama um einen sensiblen Menschen, der nach dem Tod des Partners nicht mehr aufhören will zu essen. Aus Scham versteckt Charlie sich komplett vor seiner Umwelt. Nach acht Jahren taucht die Teenie-Tochter plötzlich auf. Ein junger Missionar sorgt gleichfalls für Turbulenzen. Über zweieinhalb Zentner bringt der Koloss auf die Waage. „Die Mumie“-Star Brendan Fraser erweckt daraus mitreißend eine tragische Figur, die zu Tränen rührt: Die Rolle seines Lebens! Intensives Arthaus-Kino, das für Gesprächsstoff sorgen dürfte.

Webseite: https://shop.plaionpictures.com/de/koch-films

USA 2022
Regie: Darren Aronofsky
Darsteller: Brendan Fraser, Hong Chau, Sadie Sink, Ty Simpkins, Samantha Morton
Filmlänge: 117 Minuten
Verleih: Plaion Pictures
Kinostart: Frühjahr 2022

FESTIVALS: Weltpremiere Filmfestival Venedig

FILMKRITIK:

Mann, ist der dick Mann! 272 Kilo bringt Schwergewicht Charlie auf die Waage. Eigenständig laufen kann er schon längst nicht mehr. Seine Literatur-Kurse hält der Dozent per Zoom und abgeschalteter Kamera ab. „Wer wollte mich als Teil seines Lebens haben?“, fragt unser Charlie irgendwann einmal. Seine Teenager-Tochter reagiert mit Ekel, als sie den Vater nach acht Jahren zum ersten Mal in seinem schmuddeligen Apartment sieht. „Werde ich jetzt auch so fett?“ fragt sie panisch. Auch das Publikum dürfte sich fragen: Was soll man mit solch einer Figur anfangen? Bei einem bedrohlichen Blutdruck von 238 will seine einzige Freundin den Notarzt rufen. Doch der Dicke bleibt stur, stopft lieber weiter Schokoriegel in sich hinein.

Bald wird freilich klar, die Fresssucht hat dramatische Ursachen. Vor Jahren verlor Charlie seinen Partner, dessen Homosexualität wurde vom streng religiösen Vater stets verurteilt. Statt Saufen, Sex, Drogen oder Glücksspiel führt die Flucht durch Sucht bei Charlie zum unkontrollierten Essen. Als überaus geistreicher Dozent sollte einer wie er in der Lage sein, seine lebensbedrohliche Situation zu erkennen und zu handeln. Die Spirale der Sucht hat ihn jedoch längst im Griff, Entkommen aussichtslos!

Zur Verzweiflung über das eigene Schicksal, gesellen sich zunehmend Schuldgefühle, Frau und Tochter vor acht Jahren verlassen zu haben. Nun steht die siebzehnjährige Ellie plötzlich vor der Tür. Sie gibt sich unversöhnlich und abweisend. Mit 120.000 Dollar will Charlie sich freikaufen, seine Tochter zum Bleiben überreden. Doch Ellie zeigt sich schroff, demütigt ihren Vater gnadenlos. Ähnlich rigoros verhält sie sich gegenüber dem jungen, naiven Missionar Thomas. Ihn nutzt sie skrupellos aus, verführt ihn zum Kiffen – doch noch ahnt keiner, was der Teenie tatsächlich im Schilde führt.

Unterteilt in sechs Tage, schildert das Drama die schicksalshaften Tage des verzweifelten Helden. Neue Figuren bringen täglich neue Steinchen in das Mosaik des Psychogramms, das zunehmende beklemmender und packender wird. Zum exzellent aufgestellten Typen-Karussell gehören Ex-Frau Mary, die Studenten via Zoom sowie ein Pizzabote, der neben dem täglichen Abendessen noch einen überraschenden Wow-Effekt ausliefern wird.

So klein dieser schäbige Schauplatz, die einzige Kulisse des Kammerspiels, so groß der visuelle Einfallsreichtum von Darren Aronofsky. Seien es Schatten, die immer wieder am Fenster vorbeihuschen und ein neues Kapitel ankündigen. Oder geheimnisvolle Türen, die irgendwann geöffnet werden und Geheimnisse preisgeben. Selbst ein banales Fensterbrett mit Vogelfutter bekommt hier eine fast unheimliche Qualität.

Schauspielerisch gelingt „Die Mumie“-Star Brandan Fraser der ganz große Wurf: Hinter seiner ebenso monströsen wie makellosen Maske wirkt er wie einst John Hurt als der „Elefantenmensch“. Anders als bei den üblichen Fat-Suits funktioniert die Illusion hier perfekt bis in die Äderchen. Die emotionale Achterbahn zwischen Verzweiflung, Hass und Hoffnung, zwischen Schroffheit und Sensibilität präsentiert Fraser mit enormer Glaubwürdigkeit. Seine Gegenüber schlagen sich nicht weniger gut: Sadie Sink als skrupellose Teenie-Kratzbürste mit weichem Kern. Ebenso wie Ty Simpkins als strahlend blauäugiger Missionar mit kleinem Geheimnis. Wenn er am Ende mit seiner Homophobie und der Bibel unterm Arm grinsend davonkommt, liegt genau darin die Raffinesse dieses Dramas: Das Publikum zum eigenen Urteil provozieren statt plumper Predigten der politisch korrekten Art.

Niemand ist nur gut, keiner nur böse in diesem clever konstruierten Drama um Schuld und Sühne. Und um die Chance samt Notwendigkeit des Vergebens. Bei aller Tragik behält die Hoffnung zum guten Schluss die Oberhand. Am Ende des Tunnels gibt es nicht nur Licht, sondern ein Feuerwerk. Oder um es mit einer Kernfrage aus dem Film zu sagen: „Haben Sie manchmal das Gefühl, dass die Menschen nicht in der Lage sind, sich nicht zu kümmern?"

Dieter Oßwald