Seit 1945, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dem Untergang des Nationalsozialismus, wird darüber diskutiert und gestritten, wie der Holocaust in der Kunst abgebildet werden kann. Der britische Regisseur Jonathan Glazer hat in seinem brillanten, experimentellen Film „The Zone of Interest“ eine besondere Form gefunden, die nichts vom Grauen zeigt und doch alles spüren lässt.
GB/ USA/ Polen 2023
Regie: Jonathan Glazer
Buch: Jonathan Glazer, nach dem Roman von Martin Amis
Darsteller: Sandra Hüller, Christian Friedel, Medusa Knopf, Daniel Holzberg, Sascha Maaz, Max Beck, Wolfgang Lampl, Ralph Herforth
Länge: 105 Minuten
Verleih: Leonine
Kinostart: Dezember 2023
FILMKRITIK:
Bukolisch mutet das Leben an, das Hedwig (Sandra Hüller) und Rudolf Höß (Christian Friedel) führen, irgendwo in der polnischen Provinz, wo sie mit den Kindern an malerischen Seen baden, Geburtstag feiern, wo sie den Haushalt führt und er tagtäglich zur Arbeit geht. Er hat es nicht weit, denn direkt hinter dem schmucken Haus mit großem Garten, das die Familie bewohnt, erheben sich die Mauern von Auschwitz. Höß ist der Leiter des Konzentrationslager und als solcher – wenn man das in diesem Kontext so sagen darf und will – ausgesprochen erfolgreich. Zwischen Mai 1940 und November 1943 war er Kommandant des Lagers, dessen Name Synonym für die Vernichtungsmaschine der Nazis wurde, die mindestens sechs Millionen Juden ermordete.
All das ist weidlich bekannt, unzählige Bücher, Filme und andere künstlerische Versuche sind in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, die auf die ein oder andere Weise versuchten, das Unvorstellbare verständlich zu machen. Vor gut zehn Jahren erschien Martin Amis Roman „The Zone of Interest“, in dem der britische Skandalautor einen kaleidoskopartigen Blick auf das Leben diverser Menschen warf, die in und um Auschwitz lebten und arbeiteten. Diesen Roman hat nun Jonathan Glazer adaptiert, zum Glück nur lose, streng genommen kaum mehr als Amis’ erzählerischen Ansatz übernehmend, aber dankenswerterweise den Voyeurismus, den völlig unpassenden erotischen Blick des Romans ignorierend.
Glazers Film bleibt immer Außen, überquert nie die Mauern von Auschwitz, zeigt das nur scheinbar ganz normale Leben im Schatten des Grauens. Hedwig genießt den großen Graten, den sie liebevoll anpflanzt und stört sich scheinbar nicht am konstanten Wummern der Öfen, an gelegentlichen Schüssen, die über die Mauer hinüberwabern, auch nicht am Klang des Orchesters, das an der Laderampe spielt, um die neuen Gefangene in ein Gefühl der falschen Sicherheit zu wiegen. Nur gelegentlich bricht es aus ihr heraus, schnauzt sie eines ihrer Dienstmädchen an, was in diesem Fall besonders bedrohlich ist, denn es droht nicht der Rausschmiss, sondern das Gas.
Rudolf wiederum ist ein mustergültiger Nazi, der seine Aufgabe beflissentlich erfüllt und eifrig bemüht ist, den Vernichtungsprozess rationaler ablaufen zu lassen. Ein Vertreter sitzt da einmal bei ihm im Wohnzimmer uns stellt eine neue Idee für Brennöfen vor, die Höß begutachtet als würde es sich um neue Regale handeln.
In unbarmherzig scharfen Bildern zeigt Glazer diese Menschen, die es sich im Schatten des Grauens gemütlich eingerichtet haben. Weniger um die allzu oft zitierte Banalität des Bösens geht es dabei, als um das allzu menschliche Verhalten, unliebsame Dinge auszublenden. Erst ganz spät erlebt Höß in einem hellsichtigen Moment eine Art Vision, blickt in die Zukunft und sieht, wie im nun zur Gedenkstätte gewordenen Auschwitz die wenigen Überbleibsel der Vernichtungsmaschinerie ausgestellt werden. Dann ist der Moment vorbei und Höß geht weiter, geht wieder an die Arbeit, die er ausübt, als wäre es eine ganz normale.
Mit seinem vierten Spielfilm (Der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury und dem Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet wurde) hat Jonathan Glazer einen außerordentlichen Film gedreht, formal und inhaltlich radikal, mit größter Präzision und zwei herausragender Schauspielern in den Hauptrollen. Ein Film, der gerade in Deutschland zum Pflichtprogramm werden sollte, in Schulen, aber auch darüber hinaus.
Michael Meyns