Tonsüchtig

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Der faszinierende Dokumentarfilm über die Wiener Symphoniker, die Hüter des berühmten „Wiener Klangs“, führt in die Welt der Klassischen Musik und ihrer Interpreten. Viele Persönlichkeiten, jeder ein Solist von Weltrang, formen dieses Orchester, einige von ihnen sind Protagonisten in diesem Film über das Leben mit der Musik – vor und hinter den Kulissen. So unterschiedlich sie alle sind, haben sie doch ein gemeinsames Ziel: die Perfektion im Zusammenspiel.
Ein Muss für Klassikfans – kein Musikfilm, sondern eher eine mit exquisiten Melodien untermalte Begegnung mit Kunst und Künstlern. Sehr unterhaltsam und sehr eindrucksvoll.

Webseite: https://riseandshine-cinema.de/portfolio/tonsuechtig

Dokumentarfilm
Österreich 2020
Regie und Drehbuch: Iva Švarcová, Malte Ludin
Kamera: Helmut Wimmer
90 Minuten
Verleih: Rise and Shine Cinema
Kinostart neu: 3. Dezember 2020

FILMKRITIK:

Der prunkvolle große Saal des Wiener Konzerthauses bietet genau das richtige Ambiente für ein Orchester von Weltrang. Die Wiener Symphoniker haben hier ihren Arbeitsplatz. In kurzen Clips werden kurze Anspiele von klassischen Musikwerken vorgestellt, hier wird geprobt – verschiedene Dirigenten und Dirigentinnen stehen am Pult. Da erheben sich die Klänge zum Tutti, und schon wird abgeklopft, oder die Streicher beginnen zu zwitschern, und nach ein paar Takten ist wieder Schluss. Jemand hat sich verspielt, es fehlt ein Ton oder eine Klangfarbe, oder das Tempo war anders als gedacht. Immer dabei und vorneweg: der Konzertmeister, die Verbindung zwischen dem Dirigentenpult und den Musikern. Er ist der erste, der im Interview zu Wort kommt, und erzählt sehr witzig von seinem schwierigen Job: zwischen Scylla und Charybdis sitzt er, also irgendwie zwischen zwei sehr unbequemen Stühlen, von denen der eine die Gruppe der Musiker und der andere den Dirigenten repräsentiert. Als Konzertmeister, der zu den Ersten Geigen gehört und immer links vorne am Pult sitzt, muss er ein „Wunderwuzzi“ sein: Jeder erwartet von ihm, dass er das Unmögliche möglich macht. Später wird man erfahren, dass dieser lustige Musiker bald in den Ruhestand gehen wird, so dass ein Nachfolger für ihn gebraucht wird.

Aber zunächst gibt es erstmal jede Menge Einblicke in das Berufsleben der Künstler. Untermalt von exquisiten Klängen sieht man sie bei gemeinsamen Gymnastikübungen, die offenbar dringend notwendig sind, um die Belastungen durch stundenlanges Proben und Musizieren zu mindern. Im Orchester fungiert jeder Künstler als mehr oder weniger unauffälliges Rädchen, das die gesamte Maschinerie am Laufen hält – im Film bekommen sie ein Gesicht und eine Geschichte. Ohne ihre Instrumente und in ihrem privaten Umfeld erweisen sie sich als ganz normale Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien. Zu Anfang geht es in den Interviews vor allem um die Kindheit und die Hinwendung zur Musik. Der Harfenist spricht über seinen Entschluss, die Musik zum Beruf zu machen, den er schon mit 13 treffen musste, weil der Unterricht zu teuer für ein Hobby war. Ein Violinist berichtet lächelnd von seiner Kindheit, als das Geigeüben für ihn eine Qual war. Ein Posaunist präsentiert sich als Bergsteiger, eine Violinistin als Westernreiterin. Zwei Cellistinnen fahren im Ruderboot auf dem Bodensee – vor der Kulisse der Bregenzer Festspiele berichten sie über ihre frühen Erfahrungen mit Musik, und das (vermutlich) einzige Liebespaar im Orchester setzt sich liebevoll mit der Frage auseinander, was das Besondere an einer Musikerbeziehung ist. Ein Kollege hingegen sitzt mit Frau und Tochter am Tisch und verhandelt seine Beziehungskrise.

Für sie alle steht die Musik ganz oben in ihrem Leben, die täglichen Proben, Übungsstunden und Auftritte sind ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags. Auch wenn viele früher von einer Solistenkarriere träumten, scheint es, dass sie sich im Orchester sehr wohl fühlen. Langsam und mit sanfter Entschlossenheit gewinnt der Film über die Bekanntschaft mit seinen Protagonistinnen und Protagonisten an Tiefe: Es geht immer auch um fehlende Motivation, Ängste, Depressionen und Krisen, hervorgerufen durch höchste Ansprüche von außen und innen, und schließlich geht es um das Streben nach Perfektionismus, der zur Kunst gehört wie der Rhythmus zur Musik. Wie gehen die Musiker damit um? Einer von ihnen hat den Druck nicht mehr ausgehalten – er ist heute der Orchesterwart. Mehr und mehr wird deutlich, wie unterschiedlich alle diese Musiker sind. Dabei empfinden sie ihren Beruf nicht als Arbeit, er bedeutet für sie Erfüllung und Selbstverwirklichung. Beinahe unmerklich leitet der Film über zur Suche nach einem neuen Konzertmeister: Zum Höhepunkt des Films wird das interessante und für die Musiker extrem schwierige Auswahlverfahren. Dabei gewinnt Sophie Heinrich schließlich in einer finalen Abstimmung aller Orchestermitglieder die Wahl und wird der erste weibliche Konzertmeister in der Geschichte der Wiener Symphoniker.

Iva Švarcová und Malte Ludin gelingt ein wunderschöner Balanceakt: Sie blicken in die Herzen der Künstler ebenso wie hinter die Kulissen eines der bekanntesten Orchesters der Welt. Der Wechsel zwischen Bildern aus Konzertaufnahmen mit hinreißenden Passagen aus der Hitliste der Wiener Romantik, Aufnahmen von Proben und vielen Szenen aus dem Privatleben einzelner Musiker gibt dem Film ein ganz besonderes Tempo und ein sehr warmes Flair. Beides macht ihn zu einem ebenso unterhaltsamen wie feinfühligen Dokument über die Faszination der Kunst und die intrinsische Motivation der Künstler.

Doch Švarcová und Ludin haben keinen Musikfilm gedreht, sondern viel mehr: Ebenso unauffällig wie zielbewusst steuern sie aus der scheinbaren Harmlosigkeit eines musikalisch untermalten Porträtfilms in eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kunst und Künstler, deren Namen erst im Nachspann genannt werden – eine hübsche Anspielung auf ihre Anonymität im Orchester. Und obwohl stets ein leichter, oft humorvoller Touch vorherrscht, der irgendwie sehr wienerisch ist, und trotz aller Lockerheit werden Probleme weder verheimlicht noch heruntergespielt. Zwischen Rausch und Krise geht es immer um die Faszination der Musik. Doch am Ende stehen Glanz und Gloria mit dem unverwechselbaren Klang der Wiener Symphoniker – und mit Sophie Heinrichs strahlendem Lächeln.

Gaby Sikorski

 


 

Als „tonsüchtig“ kann man die Musiker der berühmten Wiener Symphoniker in jedem Fall bezeichnen. Sie alle verbinden mit ihrer Kunst, der Musik, große Gefühle und sie alle leben für den Klang und das Konzerterlebnis. Der beachtenswerte Dokumentarfilm „Tonsüchtig“ kommt den Symphonikern so nah wie kein Film und keine Doku je zuvor. Die Regisseure zeigen das Innenleben der Symphoniker und porträtieren Einzelpersonen. Entstanden ist ein spannendes Werk über perfektionistische Menschen, die einen beständigen Balanceakt zwischen Grandiosität und Leistungsdruck bewältigen müssen.

Sie gehören zu den führenden Sinfonieorchestern mit jährlich über 150 Auftritten überall auf der Welt: Die Wiener Symphoniker. Wer im Wiener Konzerthaus zu Gast ist und den harmonischen Klängen der Orchestermitglieder lauscht, ahnt jedoch kaum wie viel Anstrengung, Mühe und Disziplin hinter einem Leben als Berufsmusiker stecken. Die Filmemacher Malte Ludin und Iva Svarcová bringen Licht ins Dunkel und gewähren Einblicke in das renommierte Spitzenorchester.
Gant tief tauchen die beiden Regisseure Ludin und Svarcová in den Kosmos des Orchesters ein, wenn sie die Ensemblemitglieder beim Proben, Musizieren, Stimmen ihrer Instrumente und auch im privaten Raum beobachten. Sie filmen den Musikern (ihm wahrsten Sinne) über die Schulter und kommen ihnen auf diese Weise so nah wie noch niemand zuvor. Wie perfekt das Ensemble eingespielt ist und harmoniert, wird in den Musikszenen deutlich, in denen die Symphoniker im beeindruckenden Wiener Konzerthaus beim Spielen zu sehen sind. Darüber hinaus blickt „Tonsüchtig“ ebenfalls hinter die Kulissen: Etwa wenn man den Musikern bei Konzentrations-, Balance- und Dehnübungen zusehen darf.

Die Vielfalt der präsentierten Stücke ist groß und sie entstammen den verschiedensten Epochen klassischer Musik: Zu hören sind Auszüge aus den Werken von (National-) Romantikern wie Tschaikowski und Dvořák, Kompositionen der Wiener Klassik von Haydn, Beethoven und Mozart sowie die großen Meister epischer Orchesterwerke (Richard Strauß). Im Kern aber geht es in „Tonsüchtig“ darum, dem Zuschauer einzelne Musiker näherzubringen. Ihren Werdegang darzustellen und ihre persönlichen Befindlichkeiten herauszuarbeiten.

Im Mittelpunkt stehen deren Motivationen, Wünsche, Ängste und die individuellen, so mannigfaltigen Biographien. In besonnen geführten Gesprächen gelingt es den Filmemachern, in deren Innerstes zu blicken. Und Antworten auf die entscheidenden Fragen zu erhalten: Wie lebt es sich mit dem Leistungsdruck? Wie geht man mit der Anspannung vor den vielen Konzerten am besten um? Und wie wirkt sich das Berufsmusikerdasein auf das Privatleben aus?

Spannend sind etwa die Äußerungen eines Cellisten, dessen Vater bereits Berufsmusiker war – und an den deshalb schon als Kind besondere Anforderungen gestellt wurden. Er berichtet davon, wie bedeutsam die Musik und sein Instrument für ihn sind. Dass die Familie hier und da hintanstehen muss zeigt sich in einem emotionalen Gespräch mit seiner Frau und der Tochter, das Ludin und Svarcová begleiten. Mit dem nötigen Abstand und ohne einzugreifen verfolgen sie die innerfamiliäre Aussprache.

Ein Geiger erzählt etwas später davon, dass er die Geigenstunden als Kind als quälend und Last empfand. „Das Instrument war eher ein negativer Aspekt meiner Kindheit“, sagt er. Die starke Prägung der Eltern wird, wie bei vielen anderen Interviewten, sehr deutlich. Jene offenen, ehrlichen Äußerungen, die die Filmemacher ihren Porträtierten völlig zwanglos entlocken, tragen zur hohen Qualität dieser sehr intimen, umsichtig gefilmten Doku bei.

Björn Schneider