Tótem

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Bei der diesjährigen Berlinale erlebte „Tótem“ seine Weltpremiere, der zweite Spielfilm der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés, die sich ganz in der Tradition des lateinamerikanischen magischen Realismus bewegt. Ein großes, verwunschenes Haus ist Schauplatz der Geschichte, durch die Augen eines siebenjährigen Mädchens erlebt der Zuschauer Tragödien und Feiern, Rituale und Emotionen. Ein ambitionierter Film, der viel Potential verrät.

Mexiko/ Dänemark/ Frankreich 2023
Regie & Buch: Lila Avilés
Darsteller: Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé, Saori Gurza, Mateo García Elizondo, Teresita Sánchez, Juan Francisco Maldonado

Länge: 95 Minuten
Verleih: Piffl
Kinostart: 9. November 2023

FILMKRITIK:

Tonatiuh hat Krebs in einem späten Stadium. Im engen Haus der Familie siecht er dahin, unterschiedliche schulmedizinische und traditionelle Methode werden angewandt, um sein Leiden erträglicher zu gestalten. Nun hat er Geburtstag, vermutlich wird es sein letzter sein, aus diesem Anlass hat seine Familie Verwandte und Freunde zusammengerufen, die sich im Garten versammeln, um Tonatiuh zu feiern. Auch seine siebenjährige Tochter Sol verbringt den Tag im Haus ihres Großvaters, sie hilft ihren Tanten Nuri und Alejandra bei den Vorbereitungen für eine Überraschungsparty, die seltsame Formen annimmt, zwischen berauschendem Fest und Abschied von einem zum Tode verdammten.

Abgesehen von einer kurzen Anfangssequenz spielt jeder Moment von „Tótem“ in einem Haus und seinem Garten. Kein herrschaftliches Haus, kein ausladender Garten, sondern ein enges, beengendes Gebäude, ein bisschen heruntergekommen, mit verblichenen Tapeten, Räumen, in denen so viele Pflanzen stehen, das sie fast wie ein Garten wirken. Immer wieder zeigt die Kamera in ihren dichten, im 4:3-Format gefilmten Bildern Nahaufnahmen von Blättern, auf denen oft Insekten krabbeln, von Tapeten, deren Muster zu wabern scheinen. Lebendig wirkt dieses Haus, wie ein eigener Charakter in dieser Familiengeschichte, die immer wieder von Krankheit, von Siechtum erzählt.

Animistische Rituale werden durchgeführt, Geister beschworen, mit einem brennenden Papiertrichter Ohren gereinigt. Traditionelle Methoden der Heilung, aber auch die Schulmedizin findet Anwendung, Pillen werden genommen, die vielfältigen Krankheiten zu lindern gesucht. Das zumindest nominelle Familienoberhaupt, der Großvater, hatte Kehlkopfkrebs und kann nur noch durch eine mechanische Sprechhilfe kommunizieren, doch richtig übel hat es seinen Sohn Tonatiuh erwischt, der Krebs hat, der auch durch eine schwächende Chemotherapie nicht zu besiegen ist. In diesem Umfeld zu feiern mutet absurd an, doch Tonatiuhs Schwestern setzen alles daran, ihn ein letztes Mal hochleben zu lassen.

Eine ausschweifende Familie findet sich an diesem Tag zusammen, sehr viele Figuren, die oft kaum zuzuordnen sind, deren Verhältnisse oft vage bleiben. In loser Szenenfolge inszeniert Lila Avilés diesen Reigen, ihr zweiter Kinofilm nach „The Chambermaid“, der 2019 große Erfolge bei Festivals feierte und Mexikos Vorschlag für den Oscar als Bester nicht englischsprachiger Film war.

Großes visuelles Talent hat die 41jährige Regisseurin ohne Frage. Sie schafft es immer wieder, dichte Szenen zu inszenieren, überraschende Bilder zu finden, ihren Schauspielern, gerade der jungen Darstellerin der Sol, viel Raum zu geben. Doch im Wust an Figuren und kleinen Momenten eine durchgehende Linie zu finden fällt nicht leicht. Allzu oft bleiben die einzelnen Szenen Stückwerk, fügen sich die allegorisch aufgeladenen Bildern nicht zu einem größeren Ganzen. Am Ende bleibt „Tótem“ ein fraglos ambitionierter Film, der viel Potential verrät, das sich hier (noch) nicht zu einem vollends überzeugenden Ganzen fügt.

 

Michael Meyns