Twentynine Palms

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Der Franzose Bruno Dumont (L’Humanité) hat im vergangenen Jahr mit seinem Kriegsdrama Flandres den „Großen Preis der Jury“ bei den Filmfestspielen in Cannes gewinnen können. Mit fast vierjähriger Verspätung kommt nun dessen Vorgänger Twentynine Palms auch zu uns in ausgewählte Programmkinos. Die Geschichte eines in der Wüste Kaliforniens herumreisenden Künstlerpärchens kollidiert auf bravouröser Weise mit den vom Mainstream-Kino gepflegten gängigen Sehgewohnheiten, wobei sich die Radikalität, die Dumont in Form und Inhalt bis zu einem in mehrfacher Hinsicht verstörenden Finale konsequent verfolgt, mit Worten nur schwer umschreiben lässt.

Webseite: www.zorrofilm.de

OT: Twentynine Palms
F/D/USA 2003
Regie: Bruno Dumont
Drehbuch: Bruno Dumont
Mit David Wissak, Katia Golubeva
Kinostart: 12.4.2007
Verleih. Zorro/Second Order

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Es ist die bizarre Schönheit der Wüste, die Einsamkeit der Landschaft, die einem bei Bruno Dumonts Film zunächst ins Auge fällt. Dumont ist ganz offensichtlich gleichsam fasziniert von dieser aus unserer Zivilisation so gänzlich entrückten Szenerie. Lebensfeindlich, lebensunwirklich und doch wunderschön mutet die Vegetation im Süden Kaliforniens an. An diesen Ort hat es den Fotografen David (David Wissak) verschlagen. Zusammen mit seiner Geliebten Katia (Katia Golubeva) durchquert er die Wüste auf der Suche nach neuen Fotomotiven. Zwischendurch machen sie in kleinen Motels und Appartements halt, haben Sex, diskutieren, essen etwas und fahren dann weiter. Andere Menschen treffen sie dabei so gut wie keine.

Bis an die Schmerzgrenze des Zuschauers und für viele sicherlich auch darüber hinaus macht Dumont die Monotonie und Tristesse ihres Trips erfahrbar. Es dominieren lange statische Panoramaeinstellungen, die mitunter an ein Stillleben erinnern. Die Wüste ist der Star, wobei David und Katia desöfteren Gefahr laufen, in der grandiosen Kulisse schlichtweg verloren zu gehen. Doch gerade wenn dies der Fall zu sein scheint, wechselt der Film die Perspektive. Dumont ist plötzlich ganz dicht dran an seinen beiden Protagonisten, verfolgt sie mit der Handkamera bis in Momente größter Intimität. So wird bei ihm weder abgeblendet, wenn Katia mitten in der Wüste ihrem Harndrang nachgibt, noch blendet er bei ihren Sex-Intermezzi ab. Auf letztere mag zumindest an einer Stelle rein formal der Vorwurf der Pornographie zutreffen – wenngleich es sicherlich weniger explizit als in Larry Clarks Ken Park oder Patrice Chéreaus Intimacy zur Sache geht – allerdings sind sie für die Charakterisierung von Katia und vor allem David ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil. Dumont zeigt, wie David beim Orgasmus alle Energie aus sich herausschreit. Zuvor näherte er sich im Swimming Pool Katia wie ein wildes Tier, das auf der Suche nach Beute offenbar fündig geworden ist. Auf einen rohen und animalischen Akt folgt die Depression. Das Versinken im Nichts.

Für noch mehr Sprengstoff als manch explizite Sex-Darstellung sorgten seinerzeit die Ereignisse der letzten Viertelstunde. Viele Zuschauer waren geschockt über das, was Dumont ihnen in letzter Konsequenz zumutete. Der streitbare Filmemacher führte den minimalistischen Plot in eine unbarmherzige Auflösung aus Sex und Gewalt über. Spätestens dann wurde klar, warum Twentynine Palms trotz seines unbestreitbaren artifiziellen Habitus auch als Horrorbeitrag funktioniert. Die zuvor über 90 Minuten aufgestaute Energie der heißen, flirrenden Wüstenbilder, die spürbare Isolation und Verletzlichkeit der beiden Protagonisten münden in einem tödlichen Fanal. So wie Irreversible – der Film seines französischen Kollegen Gaspar Noé – mit einem Paukenschlag begann, so endet Dumonts nihilistische Abhandlung über den schmalen Grat zwischen Liebe, Sex und Hass in einer unbeschreiblichen Katastrophe.

Es fällt schwer, Twentynine Palms vorbehaltlos zu empfehlen und das obwohl Dumont von der Idee bis zur Umsetzung ein bemerkenswert klares, strukturiertes und forderndes Stück Kino gelungen ist. Zu sehr fällt sein im Look naturalistischer, rauer Film aus allem heraus, was sonst auf der Leinwand zu sehen ist – selbst im Arthouse-Bereich. Vielleicht ist es das, was zusammengefasst die Qualität von Twentynine Palms ausmacht. Er markiert eine Klasse für sich, wagemutig und kompromisslos.

Marcus Wessel