Über uns das All

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Paul, da ist sich die Lehrerin Martha sicher, ist der Mann ihres Lebens. Für ihn gibt sie auch ihre Stelle in Köln auf, um gemeinsam in Marseille ein neues Leben zu beginnen. Doch dann erhält sie die schockierende Nachricht, dass sich ihr bereits vorgereister Mann in der französischen Hafenstadt das Leben genommen hat. Weitere Details kommen ans Licht und Martha wird sich schmerzhaft bewusst, wie wenig sie ihrem Mann kannte. Mitten in ihrer Trauer taucht Alexander auf, der Paul nicht nur ähnlich sieht, sondern Martha auch einen Neuanfang nach ihren Vorstellungen ermöglicht. Sandra Hüller („Requiem“) ist eine Schauspielerin für besondere Filme. In dem Psychodrama von Kinodebütant Jan Schomburg, einer moderne Variante von „Vertigo“, läuft sie als traumatisierte Witwe zu großer Form auf.

PRIX EUROPA CINEMAS Panorama Special Berlinale 2011

Webseite: ueber-uns-das-all.realfictionfilme.de

Regie und Buch: Jan Schomburg
Darsteller: Sandra Hüller, Georg Friedrich, Felix Knopp
Verleih: Real Fiction
Deutschland 2011
Länge: 88 Minuten
Start: 15.9.

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Marthas (Sandra Hüller) Leben verläuft nach Plan. Seit Jahren lebt die junge Lehrerin zufrieden an der Seite ihres Mannes Paul (Felix Knopp). Als der Mediziner nach erfolgreicher Promotion seine erste Stelle in Marseille antritt, brechen die beiden ihre Zelte in Köln ab. Während sie die Wohnung auflöst, ist Paul schon zur neuen Arbeitstelle vorgereist. Auf gepackten Koffern bekommt sie Besuch von der Polizei. Die Beamten teilen der konsternierten Frau mit, dass sich ihr Ehemann auf einem Parkplatz in Marseille das Leben genommen hätte. In den folgenden, traumatischen Tagen kommen weitere Details ans Licht. Ein Doppelleben wird aufgedeckt. Pauls Promotion war ebenso erfunden, wie das Stellenangebot aus Frankreich. Über Jahre hat ihr Mann ein Lügenkonstrukt aufgetürmt, das ihn nun beim Zusammenbruch unter sich begrub. Die doppelte Tragödie vom Tod und der Täuschung stürzen Martha in eine traumatische Krise. In diesem Zustand trifft sie auf den jungen Geschichtsdozenten Alexander (Georg Friedrich), der ihrem toten Ehemann auf gewisse Weise ähnlich sieht. Der Akademiker ahnt nichts von Marthas Vergangenheit. Nur der Umstand, dass sich die neue Bekanntschaft bereits beim ersten Mal ungewöhnlich freizügig und forsch gibt, lässt ihn zuerst einmal auf Distanz gehen. Doch Martha bleibt hartnäckig und schon bald sind die beiden ein Liebespaar. Die Irritationen aber bleiben, zumal sich Martha anschickt, den neuen Mann an ihrer Seite nach ihren Vorstellungen zu modellieren. Als Alexander hinter ihr Geheimnis kommt, droht Martha zum zweiten Mal der Verlust ihres Mannes.

Autor und Regisseur Jan Schomburg rückt neben dem Motiv des Doppellebens, eine weitere Frage in den Mittelpunkt: die nach der Austauschbarkeit von Menschen in der Liebe. Kann man einen Menschen so sehr vermissen, dass man ihn in einem anderen Menschen wiederentdeckt? So stellt sich mitten in der Geschichte ein Perspektivwechsel ein, wenn der Film, aus der Sicht von Alexander, von Marthas Annäherung erzählt. Anders als Alfred Hitchcocks Klassiker „Vertigo“, reizten den Regisseur neben den pathologischen, auch die positiven Aspekte einer solchen Projektion. Sein Film wird zur Absage an deterministische Vorstellungen über die Liebe. Statt Vorbestimmung setzt er lieber auf schicksalhafte Begegnungen, die der Einzelne mit Bedeutung aufladen kann. Der spielerische Umgang mit den eigenen romantischen Sehnsüchten wird auf grandiose Weise von Sandra Hüller verkörpert. Die Darstellerin wird von Jan Schomburg bewusst gegen ihr sonst so unterkühltes Image, als hochemotionaler Charakter inszeniert. Mit einer bemerkenswerten Intensität und Wucht entfaltet sie die ganze Palette der Gefühle und sorgt auch an den schwierigen Stellen für Glaubwürdigkeit, wenn ihre Figur fast ansatzlos eine neue Facette ihres Wesens zeigt. Jan Schomburgs Film mag zwar in manchen Momenten noch nicht ganz ausgereift sein, das superbe Spiel seiner Hauptdarstellerin Sandra Hüller aber, ist über jeden Zweifel erhaben.

Norbert Raffelsiefen

Martha und Paul sind scheinbar glücklich verheiratet. Beide haben den Doktortitel, sie als Lehrerin, er als Arzt, aber wieder nur scheinbar. Sie haben wegen guter beruflicher Aussichten und um des besseren Klimas willen vor, vom Rheinland nach Marseille zu ziehen. Paul reist voraus.

Merkwürdig für Martha, dass sie von ihrem Mann nicht angerufen wird. Zwei Polizisten tauchen auf. Sie melden, dass Paul sich in Marseille das Leben genommen habe. Martha hält das für eine Verwechslung – unmöglich, dass Paul Selbstmord begeht.

Aber es ist so. Und manch anderes stimmte in seinem Leben ganz und gar nicht. Offenbar ein typisches Doppelleben.

Nach einer Phase der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit muss Martha so etwas wie Empörung über Pauls Verhalten empfunden haben. Von nichts und niemandem will sie sich ihr Leben stehlen lassen. Sie trifft auf Alexander. Der hat es nun leicht mit Martha. Sogar so etwas wie Glücklichsein schleicht sich bei den beiden ein.

Zu einem Rückschlag kommt es, als Martha Pauls vermisstes Handy mit emotionalen Anrufen gebracht wird. Stürzt jetzt alles wieder ein? – Nein.

Thema: die absolute Liebe. Woran ist sie gebunden? An den Partner? An die eigene Wahrnehmung? An die Perspektive, aus der man sie betrachtet? An die Vergangenheit der Liebenden? Autor und Regisseur Jan Schomburg: „Lässt sich ein Mensch, den man geliebt hat, durch einen anderen ersetzen? Kann man einen Menschen so sehr vermissen, dass man ihn in jemand anderem wieder entdeckt? Kann die Sehnsucht nach einer vergangenen Liebe eine neue erzeugen?“

Feststehende Antworten gibt es auf diese Fragen nicht. Jeder Betrachter des Films muss sich da seine eigenen Gedanken machen.

Sehenswert macht den Film neben dem Thema vor allem auch das Spiel von Sandra Hüller als Martha. Die Natürlichkeit, die Leichtigkeit, die Verwandlungsfähigkeit und dann wieder die Festigkeit, mit der sie durchgehend auftritt und den Film weitgehend trägt, grenzen ans Sensationelle. Felix Knopp als Paul hat eine kleinere Rolle. Wunderbar spielt insbesondere auch der Österreicher Georg Friedrich, der die Rolle des Alexander übernahm.

Der unkonventionelle und dramatische Neubeginn im Leben einer vom Tode ihres Mannes überraschten und getroffenen Frau.

Thomas Engel