Überleben in Neukölln

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Neukölln, das war einst ein klassischer Arbeiterbezirk, wurde dann zum Problembezirk, bei dem vor allem an Ausländer und Kriminalität gedacht wurde, entwickelte sich durch günstige Mieten zur Anlaufstelle für Künstler und steht nun im Mittelpunkt der Angst vor der so genannte Gentrifizierung. Wie unterschiedliche Typen hier leben zeigen Rosa von Praunheim und Markus Tiarks in ihrem Film „Überleben in Neukölln“.

Webseite: www.missingfilms.de

Dokumentation
Deutschland 2017
Regie: Rosa von Praunheim & Markus Tiarks
Buch: Rosa von Praunheim
Länge: 82 Minuten
Verleih: missingFILMs
Kinostart: 23. November 2017

FILMKRITIK:

Während sich manche Berliner Ortsteile seit Jahren, ja Jahrzehnten kaum zu verändern scheinen, schon immer gutbürgerlich oder wohlhabend oder heruntergekommen waren, durchlaufen andere eine rasante Entwicklung. Prenzlauer Berg und Friedrichshain etwa, die kurz nach der Wende noch Fundort für alternative Kulturen waren, wo in verfallenen Häusern illegale Clubs und Bars aufmachten, die nur wenige Monate existierten und dann weiter zogen. Praktisch komplett saniert ist inzwischen der Prenzlauer Berg, günstiger Wohnraum nicht mehr zu finden, auch Kreuzberg ist längst nicht mehr das was es noch in den 80ern war, neue Ziele mussten also her.
 
Da bot sich das südlich an Kreuzberg angrenzende Neukölln an, vor allem dessen nördliche Gebiete, die am Landwehrkanal vis a vis von Kreuzberg liegen. Zentral lag diese Gegend – die manche bald gar als Kreuzölln bezeichneten – war aber eben doch Neukölln und damit verpönt. Der Vorteil war allerdings, das hier noch günstige Wohnungen zu finden waren, was bald junge und alternative Menschen anzog, viele Künstler oder solche, die sich dafür halten. Auch viele Zuzügler aus europäischen Nachbarstaaten leben hier, besonders aus Spanien, was auch dazu führt, dass man Spanisch neben Englisch oft häufiger auf den Straßen hört als Deutsch oder Englisch.
 
In der Sanderstraße in Neukölln hat auch Stefan Stricker sein Atelier, in dem er als Juwelia den anderen Teil seiner Identität auslebt. Als Travestiekünstler in der Szene bekannt, dennoch von den Verdrängungsbewegung im Kiez bedroht. Juwelia steht im Mittelpunkt von „Überleben in Neukölln“, einer Dokumentation von Rosa von Praunheim und Markus Tiarks, die in loser Folge unterschiedliche Typen vorstellt, die sich in Neukölln heimisch fühlen und die Vielfalt beitragen.
 
Die 89jährige Frau Richter etwa, die vor gut 40 Jahren hierhin zog, um mit einer Frau zusammen zu leben, ein kubanischer Sänger, der mit seinem Partner und seinem Sohn zusammenlebt, ein russischer Performance-Künstler, der einmal versuchte (und es wohl auch schaffte) jeden Tag mit einem anderen Mann Sex zu haben, eine syrische Sängerin, die nach ihrer Flucht in Neukölln eine neue Heimat gefunden hat.
 
Natürlich ist dies ein sehr spezieller Ausschnitt aus einem Ortsteil, der mit gut 167.000 Einwohnern der größte von Berlin ist, geprägt von den Interessen Rosa von Praunheims und Markus Tiarks. Mehr impressionistisches Bild einer Subkultur als Dokumentation über die Vielfalt des Lebens in Neukölln ist ihr Film, weniger ums Überleben als ums Leben geht es auch, um die Möglichkeit, sich zu entfalten, seinen persönlichen Zielen und Träumen nachzugehen, unbehelligt von den anderen Bewohnern, in einem Biotop der Freiheit. Ganz so bukolisch war und ist Neukölln zwar gewiss nicht, aber für 80 Minuten lässt man sich in „Überleben in Neukölln“ gern in eine ganz spezielle Welt entführen.
 
Michael Meyns