Unsere kleine Schwester

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Hier kommt eine wunderbare Überraschung: allerbeste Filmkunst, vollkommen beiläufig erzählt, und zwar nach einer in Japan sehr bekannten Manga-Serie. Im Mittelpunkt steht Suzu: ein junges Mädchen, das mit seinen drei Halbschwestern zusammenzieht. Ganz unspektakulär und dennoch spannend geht es ums Erwachsenwerden, um die Bedeutung der Familie und um Zeit: die Zeit, die man braucht oder die man sich nimmt, um zu wachsen.
Der ungewöhnliche Film könnte ein cineastisches Highlight des kommenden Winters werden. Zumindest ist zu hoffen, dass er dank des universellen Themas mit seiner zauberhaften japanischen Alltagsgeschichte einen größeren Publikumskreis anspricht.

Webseite: www.kleine-schwester.pandorafilm.de

Originaltitel: 海街 Diary, Festivaltitel: Our Little Sister
Drehbuch und Regie: Hirokazu Kore-Eda (nach der Graphic Novel „Umimachi Diary“ von Akimi Yoshida)
Darsteller: Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Suzu Hirose, Ryô Kase, Takafumi Igeka, Kentarô Sakaguchi, Ohshirô Maeda
Musik: Yoko Kanno
128 Minuten
Verleih: Pandora
Kinostart: 12. Dezember 2015

Pressestimmen:

"Ein zärtliches Kinomeisterwerk."
Die Welt

FILMKRITIK:

Hirokazu Kore-Eda ist bekannt für seine beiläufige Erzählweise, für eine ungeheuer subtile Bildgestaltung und natürlich für sein Lieblingsthema: die Familie in all ihren Facetten. In Cannes ist er so etwas wie ein Stammgast, und viele seiner Werke wurden mit Festivalpreisen geradezu überschüttet. Zuletzt kam 2014 LIKE FATHER – LIKE SON, ein feinfühliges Familiendrama, in die deutschen Kinos. Sein neuester Film ist etwas ganz Besonderes, so fein und poetisch, dass an dieser Stelle eine passende Methapher folgen muss: UNSERE KLEINE SCHWESTER ist wie ein zartes Pflänzchen, das viel Aufmerksamkeit braucht, weil es sehr langsam wächst, das aber dafür höchste Belohnung verspricht, und zwar in Form eines unvergesslichen Kinoabends.
 
Um sich auf Kore-Edas Geschichte einzulassen, braucht man nicht einmal besonders viel Geduld oder womöglich Kenntnisse über Japan. Es genügt ein bisschen Sensibilität für das, was erzählt wird, aber auch für all das, was mit voller Absicht nicht gesagt wird. Der bewusste Verzicht auf die übliche Filmdramaturgie mit ihren plotpointgesteuerten Konflikten wirkt hier ebenso belebend wie das natürliche Spiel der Charaktere. Bei aller Beiläufigkeit ist die Handlung dennoch spannend: Die drei Schwestern Sachi, Yoshino und Chika lernen beim Begräbnis ihres Vaters, der die Familie schon vor 15 Jahren verlassen hat, ihre Halbschwester Suzu kennen. Sie ist erst 13, ihre Mutter ist ebenfalls verstorben, und sie müsste nun mit ihrer Stiefmutter leben, mit der sie sich nicht versteht. Kurzerhand laden die Schwestern Suzu ein, zu ihnen nach Kamakura zu ziehen, in eine idyllische, von Bergen umgebene Küstenstadt. Dort bewohnen die drei jungen Frauen gemeinsam ein großes, altes Haus, das der Familie gehört. Sachi, die älteste Schwester, arbeitet als Krankenpflegerin, sie ist sehr ernsthaft und übernimmt ganz selbstverständlich die Mutterrolle für Suzu. Yoshino hingegen arbeitet zwar in einer Bank, ist aber ansonsten weniger seriös: Sie hat wechselnde Lover und betrinkt sich gern. Die Jüngste, Chika, arbeitet mit ihrem Freund in einem Sportgeschäft und ist dankbar dafür, dass sie dank Suzu nun nicht mehr das Küken ist. Während sich die Story um Pubertät, Liebe und Beruf entwickelt, steht im Hintergrund die ziemlich geheimnisvolle Familiengeschichte. Da war der Vater, den Suzu geliebt hat, während die anderen sich kaum an ihn erinnern; und da ist immer noch die Mutter der Drei, von der sich ihr Vater wegen einer anderen, Suzus Mama, trennte.
 
Dramatische Szenen wird man vergeblich suchen. Die Atmosphäre bleibt ruhig, der Ton gemessen, der Humor ist eher sanft. Die Schwestern-WG ist ein Ort, wo es selten hoch hergeht. Gemeinsame Rituale sind wichtig: das Gebet vor dem Familienschrein, die Mahlzeiten und die Abende auf der Terrasse des Hauses oder Ausflüge an den Strand. Es wird relativ wenig gesprochen, wichtige Ereignisse scheinen zwischen den Gesprächen stattzufinden, selten werden Konflikte offenbar, die sich meist durch Zeitablauf oder nebenbei lösen – ganz wie im richtigen Leben. Die Zeit heilt bekanntlich nicht nur alle Wunden, sie ist hier der Katalysator, der eine neue Familie möglich macht. Der Film lässt sich Zeit, und genau das verleiht ihm glaubwürdigen Charme. Dazu passt die zurückhaltende Inszenierung. Die vier Schwestern spielen realistisch und mit natürlicher Würde. Dabei steht Suzu (Suzu Asano) im Mittelpunkt, die anfangs recht kindlich wirkt. Suzu Asano spielt den Teenie als niedliches, schüchternes Mädchen, das beinahe unmerklich erwachsen wird. Neben ihr ist Sachi (Haruka Ayase) die Hauptperson. Sie muss schwierige Entscheidungen treffen und wird im Verlauf der Handlung auch das Verhältnis zu ihrer Mutter überdenken. Der Kameramann Mikiya Takimoto findet wunderbar stimmige Bilder für die Schwestern und ihren Alltag. Wenn sie gemeinsam im Bild sind, sehen sie manchmal aus wie Blüten an einem Zweig: wie zufällig angeordnet, aber durch die Macht der Natur verbunden – jung, frisch, zart und schön.
 
Kurzum: Dieser ungewöhnliche, poetische Frauenfilm lädt nicht nur zu Metaphern und philosophischen Betrachtungen ein, sondern er ist perfekt geeignet für einen kuscheligen Kinoabend.
 
Gaby Sikorski