Vater unser

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Ein Dokumentarfilm, der einigen Zündstoff enthält: Der katholische Priester Robert im Süden Ungarns, nahe der Grenze zu Kroatien, hat heimlich eine Familie. Das Doppelleben belastet ihn sehr; auch Anka, seine Lebenspartnerin, und die drei Kinder leiden darunter. Die beiden Filmemacher begleiten Robi, den Priester, über mehrere Jahre. Sie zeigen einen Menschen, der mit sich selbst ins Reine kommen möchte und schließlich zu der Erkenntnis kommt, dass er dafür eine wichtige Entscheidung treffen muss.

Holy Dilemma
Ungarn 2021
Drehbuch und Regie: Julianna Ugrin und Martón Vizkelety
Kamera: Martón Vizkelety
Musik: Csaba Kalotás

89 Minuten
Verleih: Cine Global
Kinostart: 23. Juni 2022

FILMKRITIK:

Robert Polgar ist ein Pfarrer, der ganz in seinem Beruf aufgeht und in seiner Gemeinde hoch angesehen ist. Die jungen Leute mögen ihn, weil er selbst jung ist und auch mal mit ihnen zusammen zur Gitarre singt, die Älteren schätzen seine zugewandte Art, seine Freundlichkeit und seine Hilfsbereitschaft. Seit 9 Jahren lebt Robert, der von allen Robi genannt wird, in der verschlafenen Grenzgemeinde. Robi ist der Inbegriff des guten Hirten, der sich um seine Schäfchen kümmert: ein extrem aktiver Pfarrer, der in der Dorfmannschaft Fußball spielt, überall mit anpackt, wo es nötig ist, und auch mal abends mitfeiert. Wenn man ihn sieht, würde man niemals auf die Idee kommen, dass er ein heimliches Doppelleben führt. Aufmerksamen Beobachtern könnte höchstens auffallen, dass er viel telefoniert und regelmäßig zwei Tage pro Woche verschwindet. Dann fährt der katholische Priester Robi, der dem Zölibat verpflichtet ist, zu seiner Familie: Anka, die er vor mehr als 9 Jahren in Italien kennengelernt hat, und die mittlerweile drei Kinder. Wegen Anka hat Robi auf eine Karriere im Vatikan verzichtet, die ihm, dem hochgebildeten Akademiker, der fließend mehrere Sprachen beherrscht, angeboten wurde. So kam Robi als Pfarrer in die kleine Grenzgemeinde. Doch die Geheimhaltung und die Lüge, mit der er lebt, machen ihm immer mehr zu schaffen. Robi möchte in seinem Leben Ordnung schaffen, und dafür muss er eine wichtige Entscheidung treffen, die alles verändert. Denn ein katholischer Priester mit Familie – das geht nicht, aber dass es überhaupt so lange funktioniert hat, verdankt Robi einer Reihe von Mitwissern, auch in Kirchenkreisen …

Julianna Ugrin und Martón Vizkelety entwickeln ihren rein beobachtenden Dokumentarfilm ganz gemütlich und mit einer beinahe leichtfüßigen Lässigkeit. Sie zeigen Robis Familie: die Kinder, die Bescheid wissen, sofern es ihnen altersmäßig möglich ist, und die ein sehr freundliches Verhältnis zum Glauben haben. Vor allem aber haben sie eine sehr enge und liebevolle Beziehung zu ihrem Vater, den sie leider nur so selten mal für sich haben. Anka freut sich natürlich, wenn Robi seine Familie besucht und ganz für die Kinder da ist. Denn auch in seiner Familie ist Robi der gute Hirte. Die beiden Filmemacher zeigen ihn bei seiner Arbeit in der Gemeinde und als Repräsentant einer Kirche, die ihn im Grunde von seinem wahren Leben fernhält und ihn zur Heimlichtuerei verurteilt. Dadurch wird seine ganze Zerrissenheit deutlich, die auch deshalb so schrecklich ist, weil dieser junge Mann so sympathisch und offen wirkt und weil er ein wirklich gläubiger Mensch ist. Der englische Originaltitel „Holy Dilemma“ beschreibt sehr genau – und ein bisschen ironisch – das Problem.

Nur selten gibt es Situationen, in denen Robi und Anka sich für eine Interviewsituation zusammenfinden, zum Beispiel, wenn sie darüber sprechen, wie alles anfing, wie sie sich kennen lernten und es beide nicht wahrhaben wollten, dass sie sich lieben. Der Film verzichtet dabei komplett auf einen Kommentar und auf erklärende Inserts im Ablauf des Films. Lediglich eine schlichte, zurückhaltende Musik mit einfachen Tonfolgen unterstützt die Bilder. Allein aus der Beobachtung heraus entwickelt sich die Geschichte, die ganz unerwartet an Dramatik gewinnt. Aus der Situation, dass da eben ein Priester eine Familie hat und sich auf diese Weise gegenüber der katholischen Kirche, die sein Arbeitgeber ist, schuldig macht, wird mehr und mehr die Geschichte einer Entscheidungsfindung, bei der sich Robi von den Filmemachern begleiten lässt. Dabei erweist sich das Zölibat als absolut untragbares und wohl tatsächlich schon häufig übergangenes Relikt einer überholten Kirchenpolitik, das offenbar auch in Kirchenkreisen immer weniger Rückhalt findet. So formt sich aus dem Film und aus Robert Polgars Schicksal ein Appell an die katholische Kirche.

 

Gaby Sikorski